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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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Theorie des Gemeinwohls, dem Marxismus. Basilio Baltazar strebte mit allen Mitteln nur nach der menschlichen Freiheit, indem er Macht, Führer und Hierarchie abschaffen wollte.
    Beim Nazismus ging es nicht darum. Er war das laut verkündete Böse, das stolz ausposaunte: »Ich bin das Böse. Ich bin das vollkommene Böse. Ich bin das sichtbare Böse. Ich bin das Böse, das stolz ist, böse zu sein. Ich rechtfertige nichts als die Ausrottung im Namen des Bösen. Den Tod als Böses durch das Böse. Den Tod als Gewalttat und nur als Gewalttat und nichts weiter als Gewalttat, ohne jede Erlösung und ohne die Schwäche einer Rechtfertigung. «
    »Ich will diese Frau sehen«, sagte ich dem Kommandanten von Buchenwald.
    »Nein, Sie irren sich, die Frau, von der Sie sprechen, ist nicht hier, sie war nie hier.«
    »Raquel Mendes-Aleman. So heißt sie. Ich habe sie gerade hinter dem Stacheldrahtzaun gesehen.«
    »Nein, diese Frau existiert nicht.«
    »Haben Sie sie schon getötet?«
    »Nehmen Sie sich in acht. Sagen Sie nichts Unüberlegtes.«
    Hatte man sie umgebracht, weil sie sich von mir sehen ließ? Weil sie mich gesehen und wiedererkannt hatte?
    »Nein. Die Frau existiert nicht. Es gibt keine Akten über sie. Komplizieren Sie nicht alles. Schließlich haben Sie es dem wohlwollenden Entgegenkommen des Reichs zu verdanken, daß Sie hier sind. Damit Sie sehen, wie gut die Häftlinge behandelt Werden. Das hier ist nicht das Hotel Adlon, einverstanden, aber Wenn Sie am Sonntag gekommen wären, hätten Sie das Häftlingsorchester gehört. Sie haben die Parsifal-Ouvertüre gespielt. Eine christliche Oper, wissen Sie?«
    »Ich verlange, das Häftlingsregister zu sehen.«
    »Das Register?«
    »Stellen Sie sich nicht dumm. Sie nehmen es doch sehr genau. Ich will das Register sehen.«
    Beim Buchstaben in war eine Seite eilig herausgerissen, Laura. Sie, die so genau waren, so ordentlich, hatten sich nicht darum gekümmert, daß vom linken Rand der verlorengegangenen Seite ein paar Reste übrigblieben, die scharfkantig und ungleichmäßig wie die Bergrücken von Lanzarote waren.
    Ich habe nichts weiter über das Schicksal Raquel Mendes-Alemâns erfahren.
    Als der Krieg zu Ende war, bin ich wieder nach Buchenwald gefahren, aber die in Massengräbern verscharrten Toten waren zu einem anonymen Gemenge geworden, die eingeäscherten Leichen hatten sich in Staub aufgelöst, der sich auf den Haaren Goethes und Schillers abgelagert hatte. Die beiden Dichter reichten sich in Weimar die Hand, im Athen des Nordens, wo einst Cranach, Bach und Franz Liszt gewirkt hatten. Niemandem wäre der Spruch eingefallen, den die Nazis am Eingang des Konzentrationslagers angebracht hatten. Nicht das wohlbekannte »Arbeit macht frei«, sondern etwas unendlich Schlimmeres: »Jedem das Seine«. Raquel. Ich will mich an sie erinnern, wie sie am Bug der vor Havanna ankernden Prinz Eugen stand, als ich ihr anbot, sie zu heiraten, um sie vor dem Holocaust zu retten. Ich will mich an Raquel erinnern.
    »Nein«, sie blickte mich mit ihren Augen an, die tief waren wie eine unheilschwangere Nacht. »Warum soll ich die Ausnahme sein, die Privilegierte?«
    Ihre Worte reichten aus, alle meine eigenen Erfahrungen Revue passieren zu lassen, in diesem halben Jahrhundert, das zum Paradies des Fortschritts hatte werden sollen und das die entwürdigende Hölle war. Nicht nur das Jahrhundert des faschistischen und stalinistischen Terrors, ein Jahrhundert des allgemeinen Terrors, vor dem sich auch diejenigen nicht bewahrten, die gegen das Böse kämpften. Niemand hat sich davor bewahrt, Laura! Die Engländer haben sich nicht davor bewahrt, sie versteckten die Reisvorräte vor den Bengalen, damit die sich nicht zu einem Aufstand entschließen und mit Japan verbünden konnten; auch die mohammedanischen Kaufleute, die mit den Engländern zusammenarbeiteten, haben sich nicht davor bewahrt, ebensowenig wie jene Engländer, die den für die Unabhängigkeit ihrer Heimat kämpfenden indischen Rebellen die Beine brachen und es nicht erlaubten, daß man sie ärztlich versorgte; nicht davor bewahrt haben sich die Franzosen, weder die, die am Völkermord der Nazis mitwirkten, noch die, die gegen die Besetzung ihres Vaterlandes protestierten, es jedoch für ein göttliches Recht Frankreichs hielten, Algerien, Indochina und den Senegal zu besetzen; nicht davor bewahrt haben sich die Amerikaner, die die Diktatoren der Karibik und Mittelamerikas an der Macht hielten – Hauptsache, sie

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