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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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mache die Latrinen der Mönche sauber und sehe unmögliche Zeichnungen an den Wänden. Als hätte ein reuevoller Maler etwas begonnen, ohne es je zu beenden, und hätte, weil er das wußte, den demütigsten und demütigendsten Ort des Klosters ausgesucht, um ein Rätsel aufzudecken. Denn das, was ich sehe oder mir vorstelle, ist ein Mysterium, und die Stätte des Mysteriums ist der Ort, wo die guten Brüder, ob sie es wollen oder nicht, kacken und urinieren, sie sind Leib, und ihr Leib erinnert sie daran, daß sie niemals vollständig Geist sein können, wie sie es gern hätten. Vollständig.«
    »Glaubst du, daß sie es wissen? Sind sie so naiv?«
    »Sie haben den Glauben. Gott ist Fleisch geworden«, sagte Maura mit einer Art gebändigter Ekstase. »Gott hat sich seiner heiligen Straflösigkeit entäußert und ist in Christus zum Menschen geworden. Das hat Gott so schwach gemacht, daß sich die Menschen in ihm wiedererkennen konnten.«
    »Haben wir ihn deshalb getötet?«
    »Christus ist Fleisch geworden, damit wir uns in Ihm wiedererkennen.«
    »Doch um Christi würdig zu sein, mußten wir uns noch mehr erniedrigen, durften nicht mehr sein als Er.«
    »Das muß ein Mönch denken, wenn er kackt. Das ist der Glaube. Gott ist in den niedrigsten Dingen gegenwärtig, hat die heilige Thérèse gesagt.«
    Ob er nach ihm suche, fragte Laura, nach dem Glauben?
    »Christus mußte auf eine unsichtbare Heiligkeit verzichten, damit er Fleisch werden konnte. Warum verlangt man von mir, daß ich zum Heiligen werde, damit ich ein wenig von der Heiligkeit Jesu verkörpere?«
    »Weißt du, was ich gedacht habe, als mein Sohn Santiago im Sterben lag? Ist das der größte Schmerz meines Lebens?«
    »Hast du das wirklich gedacht? Oder hast du es dich nur gefragt? – Es tut mir leid, Laura.«
    »Nein. Ich dachte, wenn Gott uns etwas nimmt, dann deshalb, weil Er auf alles verzichtet hat.«
    »Auf Jesus, seinen eigenen Sohn?«
    »Ja. Ich muß ständig daran denken, seit Santiago von mir gegangen ist. Er war der zweite, weißt du? Mein Bruder und mein Sohn. Beide. Santiago der Ältere und Santiago der Jüngere. Beide. Es tut dir leid? Stell dir vor, wie es mir geht!«
    »Du mußt darüber hinwegkommen. Gott hat auf alles verzichtet. Er mußte auf seine eigene Schöpfung verzichten, auf die weit, um uns die Freiheit zu geben.«
    Gott hat uns im Namen unserer Freiheit verlassen, sagte Jorge , und weil wir die Freiheit zum Bösen und nicht nur zum Guten benutzen, mußte er Fleisch werden in Christus, um uns zu zeigen, daß Gott Mensch sein und trotzdem das Böse meiden konnte.
    »Das ist unser Konflikt«, erklärte er weiter. »Daß wir frei sind, um Böses oder Gutes zu tun und zu wissen: Wenn ich Böses tue, versündige ich mich an der Freiheit, die Gott mir gegeben hat, wenn ich aber Gutes tue, versündige ich mich auch an Gott, weil ich es wage, ihn nachzuahmen, wie Er zu sein, die Sünde des Stolzes wie Luzifer zu begehen. Du selbst hast es gerade gesagt.«
    Es war entsetzlich, das zu hören: Laura ergriff Jorges Hand.
    »Was sage ich denn so Schreckliches?«
    »Daß Gott von uns verlangt, das zu tun, was er nicht erlaubt. Ich habe nie etwas Grausameres gehört.«
    »Du hast nie so etwas gehört? Ich habe es erlebt.« ..,,
    Weißt du, warum ich mich dem Glauben an Gott widersetze? Weil ich fürchte, Ihn eines Tages zu sehen. Ich fürchte, wenn ich Gott sehen könnte, würde ich auf der Stelle erblinden. Ich kann Gott nur so weit nahen, wie Er sich von mir entfernt. Gott muß unsichtbar sein, damit ich an einem wahrscheinlichen Glauben festhalten kann, gleichzeitig aber fürchte ich die Unsichtbarkeit Gottes, weil ich in dem Fall keinen Glauben mehr, sondern Klarheit hätte. Da, nimm und lies den »Aufstieg zum Berge Karmel« von San Juan de la Cruz, betritt mit mir zusammen, Laura, die dunkelste Nacht der Zeit, die Nacht, in der ich heimlich aufgebrochen war, die Geliebte zu suchen, damit wir uns verwandeln konnten, die in den Geliebten verwandelte Geliebte, mir schwanden die Sinne, und mein Hals wurde von einer Hand verletzt, die mir sagte: Sieh und vergiß nicht… Wer hat mich von der Geliebten getrennt, Gott oder der Teufel?
    Flüchtig sah ich sie, weniger als zehn Sekunden, als unser Lastwagen des schwedischen Roten Kreuzes am Stacheldrahtzaun von Buchenwald vorbeifuhr, in diesem kurzen Moment sah ich Raquel, verloren in der Menge der Häftlinge.
    Es war sehr schwer, jemanden in dieser Masse von abgemagerten, hungrigen Wesen in

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