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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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unterstützten die Vereinigten Staaten –, während dort die Gefängnisse überfüllt waren und es auf den Straßen von Bettlern wimmelte. Wer kann sich davor bewahren? Die, die Schwarze gelyncht, hingerichtet oder eingesperrt haben? Die ihnen verboten haben, in Mississippi, der Heimat Faulkners, an der Seite eines Weißen zu trinken oder zu urinieren?
    »Von unserer Zeit an ist das Böse nicht mehr eine Möglichkeit, sondern eine Pflicht.«
    »Ich will nicht bemitleidet werden, Jorge . Mir ist es lieber, daß man mich verfolgt.«
    Das sind die letzten Worte, die ich von Raquel gehört habe, und ich weiß nicht, ob ich leide, weil ich sie nicht gerettet habe oder weil auch sie gelitten hat. Der Blick, den Raquel ihrem Henker im Lager zuwarf, sagte mir mehr noch als die Art, wie sie mich anblickte, daß sie bis zur letzten Minute ihre Menschlichkeit bewies und mir eine Frage stellte, die für immer mit mir weiterlebt. »Was ist die Tugend deiner Tugend, mein Liebster, die Liebe meiner Liebe, die Gerechtigkeit meiner Gerechtigkeit, das Mitleid meines Mitleids?«
    »Ich will deine Leiden teilen, wie du die Leiden deines Volks geteilt hast. Das ist die Liebe meiner Liebe.«
    Laura ließ Jorge auf der Insel allein. Als sie den kleinen Dampfer bestieg, wußte sie, daß sie nie zurückkommen würde. Jorge  Maura würde nie wieder eine konkrete Gestalt sein, sondern verschwommen aus einer immer gegenwärtigen Vergangenheit auftauchen, deren genaue Bestimmung der letzte Beweis wäre, daß er existierte, aber nicht mehr da war.
    »Na los«, sagte sie, »sei ein Heiliger, sei ein Stylit, steige auf deine Säule in der Wüste, sei ein Märtyrer ohne Martyrium.«
    Er antwortete, sie sei ihm gegenüber sehr hart.
    Sie erwiderte: »Weil ich dich liebe. – Wozu versteckst du dich auf einer Insel? Du wärest besser in Mexiko geblieben. Es gibt kein besseres Versteck.«
    »Ich habe keine Kraft mehr. Entschuldige.«
    »Nun ja, du bist Spanier. Du kannst darauf vertrauen, daß dich der Tod mit Verspätung holt.«
    Ob ihr die Wiederbegegnung so weh tue?
    »Nein, aber ich habe gelernt, mich vor denen zu fürchten, die mich mit ihrer Liebe verformen, nicht denjenigen, die mich hassen. Als du nach Kuba gingst, habe ich mich tausendmal gefragt, kann ich ohne ihn leben, kann ich ohne seinen Beistand sein? Ich brauchte dringend deinen Beistand, damit ich mir eine eigene Welt schaffen konnte, in der kein einziger geliebter Mensch geopfert wurde. Du hast mich unterstützt, damit ich nach Hause zurückkehrte und meiner Familie die Wahrheit sagte, was auch immer geschehen sein mochte. Ohne den Beistand deiner Liebe hätte ich das nie gewagt. Ohne die Erinnerung an dich wäre ich eine von vielen Ehebrecherinnen gewesen. Weil es dich gab, hat sich niemand getraut, den ersten Stein auf mich zu werfen. Ich fühle mich frei, weil du mich begleitest.«
    »Laura, das Schrecklichste ist längst vorbei. Beruhige dich. Denke daran, daß ich aus eigenem Willen allein hierbleibe.«
    »Allein? Ich verstehe dich nicht. Wie willst du ohne die Welt religiös sein, wie willst du zu Gott kommen, ohne über dich hinauszugehen? Du siehst doch, wie zwiespältig du lebst, zwischen dem Kloster und der Welt. Glaubst du, daß die Mönche dort drinnen, die keine Frauen zu sich hereinlassen, Gott schon gefunden haben, glaubst du, daß sie ihn ohne die Welt finden können? Wie anmaßend du bist, ein anmaßender Dreckskerl! Willst du die Sünden des zwanzigsten Jahrhunderts sühnen, indem du dich auf dieser steinernen Insel versteckst? Damit verkörperst du genau jenen Stolz, den du so verabscheust. Du bist dein eigener Luzifer. Wie willst du dir deinen Hochmut verzeihen lassen, Jorge?«
    »Indem ich mir vorstelle, daß Gott zu mir sagt: Ich hasse an dir das gleiche, was du an den anderen gehaßt hast.«
    »Indem du es dir vorstellst? Nur das?«
    »Indem ich es höre, Laura.«
    »Weißt du was? Ich werde deine Gleichgültigkeit und deine abgeklärte Weisheit bewundern… Für mich gilt das nicht.«
    »Raquel ist in einem namenlosen Grab beerdigt, mitten unter Hunderten von nackten Leichen. Sind wir mehr als sie? Ich bin nicht besser. Ich bin anders. Genau wie du.«
    »Warum meinst du, daß du dich befreit hast?« fragte sie ungläubig.
    »Weil du gekommen bist und voller Unglauben mit mir gesprochen hast. Du bist die wahre Ungläubige. Ich bin der ehemalige Ungläubige. Ich finde das Heil, weil ich sehe, daß es einen Menschen gibt, der weniger Glauben hat als ich. Wie

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