Die Jahre mit Laura Diaz
für einen neuen, ersten, niemals gesuchten oder vorausgesehenen, überraschenden Liebesblick.
Er verließ die Küche und sah sich kurz die alten Zeitungen an, die für den Warmwasserboiler bestimmt waren.
Es blieb keine Zeit mehr für das Mitleid, das die Alten verdienen, selbst wenn sie die Liebe und Achtung ihrer Mitmenschen verloren haben.
Er ging durch das Wohnzimmer mit den Samtmöbeln, in dem Laura vor vielen Jahren ihre langen Wartezeiten verbracht hatte, während ihr Ehemann im Speisezimmer über Arbeiterpolitik diskutierte.
Es blieb keine Zeit mehr, sich zu entrüsten, wenn man von ihm Ergebnisse und keine Worte verlangte.
Er drehte sich um und kehrte ins Speisezimmer zurück, als hätte er etwas vergessen, eine Erinnerung, ein Versprechen.
Es blieb keine Zeit mehr, sich mit der Erklärung zu rechtfertigen, er sei in die offizielle Partei eingetreten, um die Regierenden von ihren Fehlern zu überzeugen.
Er schwankte und hielt sich am Treppengeländer fest.
Es blieb keine Zeit mehr, um zu versuchen, die Dinge von innen, innerhalb von Regierung und Partei, zu verändern.
Für jede Stufe brauchte er ein Jahrhundert.
Es blieb keine Zeit mehr, sich von ihr beurteilt zu fühlen.
Jede Stufe wurde zu Stein.
Es blieb keine Zeit mehr, sich verurteilt oder zufrieden zu fühlen, daß nur sie und kein anderer ihn beurteilte.
Er konnte in den zweiten Stock hinauf gelangen.
Es blieb keine Zeit mehr, daß ihn sein eigenes Gewissen verurteilte.
Er fühlte sich verwirrt. Wo lag das Schlafzimmer, welche Tür ging zum Bad?
Es blieb keine Zeit mehr, das jahrelang erworbene und in einem einzigen Augenblick verlorene Ansehen zurückzugewinnen, als zählte nur jener Augenblick, in dem sich die Welt von dir abwandte.
Ach ja, dort war das Bad.
Es blieb keine Zeit mehr, ihre Worte: »Was hast du heute gemacht?«, zu hören und zu antworten: »Das gleiche wie immer, du weißt ja.«
Er klopfte schamhaft mit den Fingerknöcheln.
Es blieb keine Zeit mehr, sie in jeder Sekunde zu überwachen, Detektive auf ihre Spur zu setzen, sie ein wenig zu demütigen, weil er sie allzusehr liebte.
Er ging ins Bad.
Es blieb keine Zeit mehr, von Überdruß und Geringschätzung zu Liebe und Zärtlichkeit überzugehen. Nie mehr.
Er besah sich im Spiegel.
Es blieb keine Zeit mehr, daß ihn die Arbeiter liebgewannen, daß er sich von den Arbeitern geliebt fühlte.
Er nahm Messer, Napf und Pinsel.
Es blieb keine Zeit mehr, die historischen Kampftage des Streiks von Rio Blanco nachzuerleben.
Langsam erzeugte er Schaum mit dem feuchten Pinsel und der Rasierseife.
Es blieb keine Zeit mehr, noch einmal die Roten Bataillone der Revolution aufzustellen.
Er bedeckte die Wangen, die Oberlippe und den Hals mit dem Seifenschaum.
Es blieb keine Zeit mehr, das Haus des Weltarbeiters wiederzubeleben.
Er rasierte sich langsam.
Es blieb keine Zeit mehr, daß man seine revolutionären Verdienste anerkannte, niemand erinnerte sich mehr an sie.
Er hatte die Gewohnheit, sich nachts zu rasieren, bevor er sich hinlegte, so gewann er morgens Zeit, um eher zur Arbeit gehen zu können.
Es blieb keine Zeit mehr, daß man ihm seinen richtigen Platz gab, verdammt noch mal, er war jemand, er hatte etwas geleistet, er verdiente einen Platz.
Er rasierte sich fertig.
Es blieb nur noch Zeit, seinen Mißerfolg anzuerkennen.
Er trocknete sich das Gesicht mit einem Tuch ab.
Es blieb keine Zeit mehr für die Frage: Wo habe ich versagt?
Lange lachte er den Spiegel an.
Es blieb keine Zeit mehr, eine Tür für die Liebe zu öffnen.
Er sah einen unbekannten Alten, einen anderen, der er selber war und der sich vom Grund des Spiegels auf ihn zubewegte, um mit ihm zusammenzutreffen.
Es blieb keine Zeit mehr zu sagen: Ich liebe dich.
Er sah die Falten an den Wangen, das herabgesunkene Kinn, die merkwürdig langgezogenen Ohren, die Augensäcke, die überall wachsenden weißen Haare, an den Ohren, am Kopf, an den Lippen, wie vereistes Heu. Eine alte Sumpfzypresse.
Er verspürte eine ungeheure, schmerzliche und zugleich wonnevolle Lust, sich hinzusetzen und zu scheißen.
Es blieb keine Zeit mehr, die Verheißung eines bewundernswerten, ruhmreichen und vererbbaren Schicksals zu verwirklichen.
Er ließ die gestreifte Pyjamahose herunter, ein Geburtstagsgeschenk seines Sohns Danton, und setzte sich auf den Abort.
Es blieb keine Zeit mehr…
Er drückte mit aller Kraft und fiel nach vorn, sein Bauch entleerte sich, und sein Herz blieb stehen.
Erbärmliche alte
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