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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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Sumpfzypresse.
    Bei der Totenwache für Juan Francisco nahm sich Laura vor, ihren Mann zu vergessen, alle Erinnerungen auszulöschen, die wie ein vorzeitiger Grabstein auf ihr lasteten, das Grab ihrer Ehe. Anstatt Juan Francisco zu betrauern, schloß sie die Augen und dachte an die Geburtswehen, sie dachte daran, wie sie ihre Kinder geboren hatte, unter welch großen Schmerzen und ewig langen Pausen zwischen den einzelnen Kontraktionen der ältere Sohn zur Welt gekommen war, während der zweite sanft geboren wurde, als schluckte man Milchgelee hinunter, flüssig und sanft wie geschmolzene Butter. Mit der Hand auf dem Sarg ihres Mannes beschloß sie, die Geburtswehen zu durchleben, nicht den Schmerz des Todes, und sie begriff, daß fremdes Leid und der Tod eines anderen unserem Geist im Grunde fremd sind, weder Danton noch Santiago hatten die Wehen ihrer Mutter gespürt, der Eintritt in die Welt war für sie ein Schrei, der kein Glück und keine Trauer verkündete, es war der Triumphschrei des Neugeborenen, sein »Hier bin ich!«, während die Mutter litt, vielleicht wie bei ihrer eigenen Geburt, bei der sie einen schrecklichen traumatischen Schock erlitt, schrie sie gemeinsam mit Santiago, ohne sich darum zu kümmern, daß der Arzt und die Krankenschwestern sie hörten: »Verdammt! Wozu habe ich einen Sohn bekommen? Wie entsetzlich! Warum hat man mich nicht gewarnt? Das halte ich nicht aus, das halte ich nicht aus, bringt mich lieber um, ich will sterben, verdammter Knirps, der soll auch sterben!«
    Und jetzt war Juan Francisco tot und wußte es nicht. Er spürte keinen Schmerz.
    Sie auch nicht. Deshalb erinnerte sie sich lieber an die Geburtswehen, damit die Gäste der Totenwache – ehemalige Genossen, Gewerkschafter, kleine Regierungsbeamte, der eine oder andere Abgeordnete und, in schreiendem Gegensatz zu ihnen, die Familie und die wohlhabenden Freunde Dantöns – in ihrem Gesicht die Spuren eines gemeinsamen Schmerzes erkannten, auch wenn er vorgetäuscht war. Nur der Hingerichtete spürt ihn, wenn ihn die Kugeln durchbohren, nicht das Erschießungskommando oder der Offizier, der den Befehl gibt, nur der Kranke spürt den Schmerz, nicht die Krankeschwestern.
    Laura wußte nicht, warum, doch sie erinnerte sich an das Bild der Spanierin Pilar Méndez vor den Toren der kleinen Stadt Santa Fe de Palencia, die mitten in der Nacht schrie, damit ihr Vater sie ohne Mitleid behandelte, sondern mit der Gerechtigkeit, wie diese vom politischen Fanatismus verstanden wurde: der Erschießung im Morgengrauen, weil sie die Revolution verraten und die Sache der Nationalen unterstützt hatte. Wie sie hätte Laura gern geschrien, aber nicht wegen ihres Manns oder ihrer Kinder, sondern ihrer selbst wegen, weil sie sich auf so banale, schreckliche Weise an ihre Schmerzen als Gebärende erinnerte. Es heißt, daß das Sprachvermögen vom Schmerz gelähmt wird. Man kann dann nur noch einen Schrei, ein Wimmern, einen unartikulierten Ruf ausstoßen. Über den Schmerz reden die, die ihn nicht spüren. Wahrer Schmerz hat keine Worte, doch Laura Dïaz wollte bei der nächtlichen Totenwache für ihren Mann nicht schreien.
    Mit geschlossenen Augen erinnerte sie sich an die zwei Sant- la gos, ihren Halbbruder Santiago Dïaz Obregõn, der als Einundzwanzigjähriger in Veracruz erschossen wurde, und an ihren Sohn Santiago Lopez Dïaz, der mit siebenundzwanzig Jahren in Mexico-Stadt eines natürlichen Todes gestorben war. Zwei gleichermaßen schöne Tote. Ihnen widmete sie ihre Trauer. Ihre beiden Santiagos, der Ältere und der Jüngere, vereinten in jener Nacht die zerstreute, aufs Geratewohl über die Jahre verteilte Welt, um ihr eine eigene Gestalt zu geben, die Gestalt zweier junger, schöner Körper.
    Juan Franciscos Genossen wollten die rote Fahne mit Hammer und Sichel auf seinen Sarg legen. Laura wies sie ab. Symbole waren überflüssig. Sie hatten kein Recht, ihren Mann mit einem roten Tuch zu identifizieren, das eher in eine Stierkampfarena gehörte.
    Beleidigt, aber schweigend gingen die Genossen fort.
    Der Priester in der Trauerkapelle bot seine Dienste für ein Rosenkranzgebet an.
    »Mein Mann war nicht gläubig.«
    »Gott in seiner Barmherzigkeit nimmt uns alle auf.«
    Laura Dïaz riß das Kruzifix ab, das den Sargdeckel schmückte, und gab es dem Pfarrer.
    »Mein Mann war ein Gegner der Kirche.«
    »Señora, beleidigen Sie uns nicht. Das Kreuz ist heilig.«
    »Nehmen Sie es. Das Kreuz ist ein Folterinstrument. Warum bringen Sie

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