Die Jahre mit Laura Diaz
nicht lieber einen kleinen Galgen oder eine Guillotine an? In Frankreich hätte man Jesus Christus guillotiniert, wissen Sie?«
Das entsetzte, mißbilligende Gemurmel, das aus den Reihen der Familienangehörigen und Freunde ihres Sohns Danton kam, freute Laura. Sie wußte, daß sie etwas Unnötiges getan hatte. Eine Provokation. Sie war ihr ganz natürlich über die Lippen gekommen. Sie konnte es nicht verhindern. Es machte ihr Vergnügen. Es schien ihr plötzlich so etwas Ähnliches wie ein Akt der Befreiung, wie der Beginn von etwas Neuem. Wer war sie schließlich von nun an? Eine einsame Frau, eine Witwe ohne Gesellschaft, ohne weitere Familienangehörige als einen fernen Sohn, der in einer Welt gefangen war, die Laura Dïaz für abscheulich hielt.
Allmählich zogen sich die Leute gedemütigt oder beleidigt zurück: Laura wechselte Blicke mit dem einzigen Menschen, der sie mit Sympathie ansah. Es war Basilio Baltazar. Doch bevor sie ein Wort wechseln konnten, trat ein sehr kleiner, gebrechlicher Mann auf sie zu, der zusammengeschrumpft wie ein zu heiß gewaschener Pullover aussah und sich in einen für ihn viel zu großen Umhang hüllte, ein Männchen mit scharfen und zugleich von der Zeit verwischten Gesichtszügen, mit einem kleinen Haarbüschel wie verbranntem Gras über jedem Ohr. Er übergab ihr einen Brief und sagte mit einer Stimme, die aus der Tiefe der Zeit kam: »Lies ihn, Laura, er spricht von deinem Mann…«
Er trug kein Datum, doch es war eine alte Schrift, die wie die eines Geistlichen wirkte und eher für Tauf- und Sterberegister, das Alpha und Omega des Lebens, als dafür geeignet schien, sich einem Mitmenschen mitzuteilen. In der Nacht las sie den Brief.
»Liebe Laura! Darf ich Sie so nennen? Schließlich kenne ich Sie seit Ihrer Kindheit, und obwohl uns tausend Lebensjahre trennen, erhält sich meine Erinnerung an Sie stets frisch. Ich weiß, daß Ihr Mann Juan Francisco gestorben ist und das Geheimnis seiner Herkunft für sich behalten hat, als wäre sie etwas Verächtliches oder gar Schändliches. Und ist Ihnen bewußt, daß er genauso gestorben ist, anonym, ohne Aufsehen zu erregen? Wenn ich Sie heute darum bäte, könnten Sie mir erklären, wie das Leben Ihres Mannes während der letzten zwanzig Jahre gewesen ist? Nein, meine liebe Laura, es gäbe nichts zu erzählen. Aber glauben Sie denn, daß der Großteil der Menschen, die in diese Welt hineingeboren werden, etwas Außerordentliches über ihr Leben zu erzählen hat? Sind sie darum weniger wichtig, verdienen sie weniger Achtung und, manchmal, Liebe? Ich schreibe Ihnen, meine liebe Freundin, die ich Sie seit Ihrer Kindheit kenne, um Sie zu bitten, daß Sie sich nicht länger quälen, wenn Sie daran denken, was und wer Juan Francisco Lopez Greene war, bevor er Sie kennenlernte und heiratete. Bevor er als Kämpfer für die Gerechtigkeit bei den Streiks von Veracruz und der Aufstellung der Roten Bataillone während der Revolution bekannt wurde. Das war das Leben Ihres Mannes. Jene zwanzig Jahre des Ruhms, der Volksreden und der Kühnheit. Er hatte kein Leben vor und nach diesem Augenblick des Ruhms, wenn Sie mir gestatten, es so zu nennen. Bei Ihnen hat er den Ruhehafen eines ermüdeten Helden gesucht. Haben Sie ihm den Frieden gegeben, um den er Sie gebeten hat? Oder haben Sie von ihm etwas verlangt, das er nicht mehr geben konnte? Ein müder Held, der erlebt hatte, was man nicht zweimal erlebt, seinen Augenblick des Ruhms.
Er kam aus weiter Ferne und von tief unten, Laura. Als ich ihn als ganz jungen Mann in Macuspana kennenlernte, irrte er wie ein kleines, herrenloses Tier ohne Familie umher und stahl hier und da etwas Essen, wenn ihm die Bananen nicht genügten, die es in Tabasco für den hungrigsten Armen umsonst gibt. Ich habe ihn aufgenommen. Ihm Kleidung gegeben. Ihm Lesen und Schreiben beigebracht. Sie wissen ja, daß so etwas in Mexiko immer wieder vorkommt: Ein blutjunger Pfarrer bringt einem armen Kind bei, in der Sprache zu lesen und zu schreiben, die dieser Junge, wenn er groß ist, gegen unsere heilige Mutter Kirche benutzen wird. So war Juârez, und so war Lopez Greene. Dieser Name. Wo hatte er ihn her, wenn er weder Vater noch Mutter noch einen Hund hatte, der ihm nachbellte, wie es bei uns in einer anschaulichen Redensart heißt? ›Vom Hörensagen, Pater…‹ Lopez ist ein weitverbreiteter Namen unter den Nachkommen der Spanier, und Greene heißen nicht selten Familien in, Tabasco, die von englischen Piraten der
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