Die Jahre mit Laura Diaz
weil es keine Vergangenheit hatte, daß sein Leben nur äußerlich war, war das der Ruhm Juan Franciscos, des
Redners, des Führers, des Revolutionärs? Und dahinter, was gab es dahinter? Nichts?
»In Villahermosa lebte ein mongoloides Mädchen. Es drohte, schlug und spuckte wütend. Seine Mutter mußte ihm Scheuklappen anlegen wie einer Stute, damit es die Welt nicht sah und sich beruhigte.«
»War das deine Nachbarin in Tabasco?«
Nein, er hatte keine Nachbarn, sagte er mit einem Kopfschütteln.
»Wer bist du? Woher kommst du? Willst du es mir niemals sagen?«
Wieder schüttelte er den Kopf.
»Weißt du, daß uns das trennt, Juan Francisco, daß du mir wieder einmal die Geschichte deines Lebens vorenthältst, wo wir uns beinahe verstehen?«
Diesmal nickte er.
»Was hast du getan, Juan Francisco? War dein Heldentum eine Lüge? Weißt du, daß ich soweit bin, das zu glauben? Welchen Mythos willst du an deine Söhne weitergeben, an den lebenden und an den toten, hast du darüber nachgedacht? Was willst du uns vererben? Die ganze Wahrheit? Die halbe Wahrheit? Den guten Teil? Den schlechten Teil? Welcher Teil ist für den lebenden Danton? Welcher für den toten Santiago?«
Nur die Zeit, die sich wie Rauch verflüchtigte, würde das eifersüchtig gehütete Geheimnis ihres Mannes Juan Francisco Lopez Greene offenbaren. Wie oft hatte der eine den anderen tatsächlich zum Nachgeben aufgefordert? Konnten sie nie sagen, noch heute vertraue ich dir alles an?
»Später wirst du es verstehen…«, sagte der Mann, der immer mehr resignierte.
»Weißt du, wozu du mich zwingst? Du zwingst mich dazu, dich zu fragen: Was muß ich dir geben, was willst du von mir, Juan Francisco? Soll ich wieder ›mein Liebster, mein Schatz‹ zu dir sagen, während du ganz genau weißt, daß ich diese Worte einem anderen Mann und meinen Kindern vorbehalte? Du bist mein Mann, Juan Francisco, nicht mein Bester, mein Schatz, mein Liebster (mein Hidalgo, mein kleiner angebeteter Spanier…).«
Sie fürchtete oder wollte auch nur glauben, daß Juan Francisco irgendwann aus seiner Lethargie aufwachen und sie mit einer anderen Stimme rühren würde, der neuen und zugleich alten Stimme des Endes. Sie nahm sich vor, geduldig diesem Ende entgegenzusehen, das kommen würde, das offensichtlich bereits nahte, gemessen am körperlichen Verfall dieses großgewachsenen Mannes mit den hohen Schultern und den riesigen Händen, dem langgestreckten Oberkörper und den kurzen Beinen, wie sie manche Angehörige seiner Kaste hatten – ja, seiner Kaste, Laura wollte Juan Francisco wenigstens das zuschreiben: eine Rasse, Kaste, Vorfahren, Familie, Vater und Mutter, Geliebte, eine erste Ehefrau, uneheliche oder eheliche Kinder, was kam es schon darauf an? Eines Tages wäre sie beinahe im Interoceânico nach Veracruz zurückgekehrt und von dort per Boot und Bus nach Tabasco weitergefahren, um das Personenstandsregister einzusehen. Doch schon fühlte sie sich wie eine erbärmliche Schnüfflerin, sie führte ihr tägliches Leben weiter und half Frida Kahlo, die mehr als je zuvor litt: Man hatte ihr ein Bein amputiert, sie war ans Bett und an Rollstuhl gefesselt. Laura nahm an den Versammlungen der Riveras teil, die sie zu Ehren der neuen Emigranten durchführten, jener Nordamerikaner, die vom »Ausschuß zur Untersuchung unamerikanischer Umtriebe« des Kongresses verfolgt wurden.
Ein neuer Krieg hatte begonnen, der Kalte Krieg, Churchill hatte ihn in einer berühmten Rede sanktioniert: »Von Stettin an der Ostsee bis nach Triest am Adriatischen Meer ist ein eiserner Vorhang gefallen.« Stalin gab den Demokratien recht. Der Verfolgungswahn des alten Diktators erreichte irrwitzige Extreme, er ließ nicht nur seine schimärischen Feinde einsperren und umbringen, sondern auch seine Freunde, weil er befürchtete, daß sie eines Tages zu seinen Feinden würden, er praktizierte vorbeugende, grausame, entsetzenerregend unnötige Morde und Verhaftungen… Picasso malte derweil das »realistische« Porträt Stalins und eine Taube als seine Weggefährtin, weil dieses absonderliche Ungeheuer, das Domingo Vidal, Basilio Baltazar und Jorge Maura bei ihren Tertulias im Café de Paris während des Spanienkriegs so kontrovers kommentiert hatten, für ihn der Vorkämpfer des Friedens und Gegner der nordamerikanischen Imperialisten schien, die im Handumdrehen ihren eigenen antikommunistischen Verfolgungswahn ersannen und stalinistische Agenten unter jedem Teppich, auf jeder New
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