Die Jahre mit Laura Diaz
wäre, die dem Bildhauer Enrique Alciati als mythisches Modell gedient hatte, ohne sich vorzustellen, daß eines Tages ihr schönes Bild, ihr Körper, am Fuß der schlanken Gedenksäule in Stücke zerschmettert würde. Laura sah die Flut des Waldes und den Sturz des Engels, spürte jedoch vor allem, wie ihr eigenes Haus knirschte und, den Flügeln des Engels gleich, in drei Teile zerbrach, wie eine gebackene Tortilla zwischen den Zähnen dieser scheußlichen Stadt, durch die sie eines Nachts zusammen mit Orlando Ximénez gelaufen war, um das Gesicht des wahren Elends Mexikos zu entdecken, des unsichtbaren, allerschrecklichsten Elends, das sich nicht zu zeigen wagt, weil es nichts zu erbitten hat und weil ihm niemand etwas geben wird.
Sie wartete darauf, daß sich die Kraft des Erdbebens erschöpfte. Das Beste, was sie tun konnte, war, sich nicht zu bewegen. Es gab keine andere Möglichkeit, dieser tellurischen Macht zu widerstehen, als sie mit der ihr entgegengesetzten Kraft zu bekämpfen: der Unbeweglichkeit.
Laura hatte nur ein anderes großes Erdbeben erlebt, das von 1942, als die Stadt durch die Folgen eines ungewöhnlichen Ereignisses erschüttert wurde: Ein Bauer in Michoacăn hatte gerade den Boden gepflügt, da stieg Rauch aus einem Loch auf, und aus dem Loch wuchs in wenigen Stunden ein kleiner Vulkan empor, als brächte die Erde ein Kind zur Welt, den Paricutin, der Felsbrocken, Lava und Funken ausspuckte. Nachts konnte man den Feuerschein noch aus weiter Ferne sehen. Das Phänomen eines aus dem Nichts auftauchenden Vulkans war so ergötzlich wie erstaunlich, in seiner Außergewöhnlichkeit aber auch begreifbar, auch wenn der wirkliche Name des Ortes aus der Purépecha-Sprache stammte und unaussprechlich war: Paranguaricutiro, was zu »Paricutin« abgekürzt wurde. Ein Land, in dem über Nacht ein Vulkan auftaucht, aus dem Nichts entsteht, ist ein Land, in dem alles mögliche geschehen kann…
Das Erdbeben von 1957 war grausamer, hart und scharf wie ein Machetenhieb traf es den schlafenden Körper der Stadt. Als es sich beruhigt hatte, stieg Laura vorsichtig die kleine eiserne Wendeltreppe zur Schlafzimmer étage hinunter und fand alles in wildem Durcheinander, Schränke und Schubladen, Zahnbürsten, Gläser und Seifenstücke, Bimssteine und Strohwische. Im Erdgeschoß hingen die Bilder schief, waren die Lampen erloschen, die Teller zerbrochen. Die Petersilie lag auf dem Boden verstreut, die Electropura-Wasserflaschen waren zersplittert.
Draußen sah es noch schlimmer aus. Von der Avenida aus traten die katastrophalen Schäden, die das Haus erlitten hatte, klar zutage. Die Fassade war nicht nur rissig, sondern wie von Dolchstößen zerfetzt, wie eine Apfelsine in Scheiben zerteilt, unbewohnbar.
Das Beben weckte Gespenster. Die Telefone funktionierten noch, und als Laura später eine Tortilla mit Sardinen aß und einen Traubensaftsprudel trank, erhielt sie einen Anruf von Danton und einen zweiten von Orlando.
Ihren jüngeren Sohn hatte sie seit der Totenwache für Juan Francisco nicht gesehen, bei der Laura die Familie ihrer Schwiegertochter, vor allem aber sie selbst, die junge Ayub Longoria, schockierte.
»Ich kümmere mich einen Scheißdreck um diese Bande von feinen Pinkeln«, hatte Laura damals zu ihrem Sohn gesagt.
»In Ordnung«, antwortete Danton. »Ihr seid wie Feuer und Wasser, du weißt ja… Mach dir keine Sorgen. Es wird dir an nichts fehlen.«
»Danke. Hoffentlich sehen wir uns wieder.«
»Hoffentlich.«
Die Familie der Schwiegereltern empörte sich noch mehr, als Laura mit einem nordamerikanischen Kommunisten nach Cuernavaca übersiedelte, aber Dantons Geld floß auch weiter pünktlich und reichlich. Das wurde nicht in Frage gestellt, darüber brauchte man nicht weiter zu reden.
»Bist du in Ordnung, Mama?«
»Ich ja. Das Haus ist kaputt.«
»Ich schicke ein paar Architekten, die sollen es sich ansehen. Geh in ein Hotel und sag mir Bescheid, damit ich alles für dich regeln kann.«
»Danke. Ich gehe zu Diego Rivera.«
Ein peinliches Schweigen trat ein, dann sagte Danton in heiterem Ton: »Was alles passiert. Dona Carmen Cortina ist unter ihrem Dach begraben worden. Während sie schlief. Hast du sie gekannt? Stell dir vor. In ihrem eigenen Bett begraben, wie ein hot cake plattgedrückt. Du schönes, geliebtes Mexiko! Es heißt, damals in den dreißiger Jahren war sie tbe life of the party.«
Morgens klingelte das Telefon wieder, und Laura fuhr erschrocken hoch. Sie erinnerte
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