Die Jahre mit Laura Diaz
sich an die Zeit von Ericsson und Mexicana, die sich Leitungen und Nummern teilten und allen das Leben schwermachten. Inzwischen gab es eine einzige Telefongesellschaft, und das Spiel mit dem Telefon als Tarnung mußte den Liebespaaren fehlen.
Als wollte sie den beharrlichen Anrufer hinhalten, ließ sie alles vor ihren Augen Revue passieren, was neu in der Welt aufgetaucht war, seit ihr Großvater Philipp Kelsen 1867 Deutschland verlassen hatte und nach Mexiko gekommen war: Film, Radio, Auto, Flugzeug, Telefon, Telegraf, Fernsehen, Penizillin, Kopiergeräte, Kunststoffe, Coca-Cola, Langspielplatten, Nylonstrümpfe…
Und vielleicht erinnerte sie sich wegen der Katastrophenstimmung auch an Jorge Maura. Schließlich klang das Klingeln des Telefons für sie wie Herzklopfen, und sie zögerte einige Augenblicke. Sie fürchtete sich, als sie den Hörer abnahm. Sie versuchte, die Baritonstimme zu erkennen, die sich absichtlich in höhere Lagen schwang, damit sie englischer klang. Die Stimme begrüßte sie und erkundigte sich: »Laura? Hier ist Orlando Ximénez. Hast du von der Tragödie mit Carmen Cortina gehört? Sie wurde zerquetscht. Während sie schlief. Das Dach ist auf sie herabgestürzt. Wir wollen Totenwache für sie halten im Gayosso an der Sullivan. Ich habe gedacht, for old time's sake…«
Der Mann, der um sieben Uhr aus dem Taxi stieg, begrüßte sie vom Rand des Trottoirs und kam mit unsicheren Schritten und einem flüchtig hin und her huschenden Lächeln auf sie zu, als wäre sein Mund die Skala eines Radioapparats, auf der man die richtige Station suchte.
»Laura! Ich bin's, Orlando. Erkennst du mich nicht? Sieh her«, lachend zeigte er auf die Manschette und den Goldring mit dem Monogramm OX. Er war vollständig kahl. Sonderbar –schlimm, sagte sich Laura – war, daß der außerordentlich glatte und wie ein Babypopo nackte Schädel einen derartigen Gegensatz zum Gesicht bildete, das von einem überaus dichten Gitternetz zerfurcht und in allen Richtungen durchschnitten wurde. Ein Gesicht wie eine irrsinnige Windrose, deren Himmelsrichtungen aufs Geratewohl auseinanderstrebten, ein Spinnennetz ohne jede Symmetrie.
Orlando Ximénez' Runzeln ließen sich so wenig zählen wie die Furchen eines jahrhundertelang beackerten Feldes, das eine immer kärglichere Ernte bringt. Allerdings wirkte er weiter vornehm durch seinen schlanken Körper und seine gute Kleidung, einen zweireihigen Prince of Wales mit schwarzer, dem Anlaß entsprechender Krawatte und einem Liberty-Ziertuch, das herausfordernd aus der Brusttasche hervorsah – ein Zeugnis seiner unsterblichen Koketterie. »Nur Gecken und Leute aus Toluca tragen Krawatte und Tuch von derselben Art«, hatte er ihr vor Jahren in San Cayetano, im Hotel Régis, erklärt. Orlando.
»Liebste Laura«, sagte er, er merkte, daß sie Schwierigkeiten mit dem Wiedererkennen hatte, und nachdem er ihr zwei flüchtige Küßchen auf die Wangen gehaucht hatte, trat er zurück, um sie anzusehen, wobei er ihre Hände weiter in seinen hielt.
»Laß dich anschauen.«
Er war derselbe Orlando wie früher, er kam ihr zuvor und sagte wortlos: Wie sehr du dich verändert hast, Laura, bevor sie sagen konnte: Wie sehr du dich verändert hast, Orlando.
Auf dem Weg zur Calle de Sullivan (»wer wohl Sullivan gewesen ist? – ein englischer Operettenautor, nur daß der immer wie ein siamesischer Zwilling mit seinem Partner Gilbert vereint war, wie Ortega mit Gasset«, spaßte der unverbesserliche Orlando) sprach Lauras einstiger Freund über den entsetzlichen Tod Carmen Cortinas und das Mysterium, das diesen für immer umgeben werde. Die berühmte Gastgeberin der dreißiger Jahre, die mit ihrer Tatkraft die mexikanische Gesellschaft aus ihrer lethargischen Erschütterung gerettet hatte – »wenn man das so sagen kann, das ist ein Oxymoron«, erklärte Orlando lächelnd –, Carmen Cortina war bereits seit Jahren bettlägerig, sie war an einer Venenentzündung erkrankt, die es ihr so gut wie unmöglich machte, sich zu bewegen. Die Frage war nun: Hatte Carmen Cortina noch aufstehen können, um aus dem einstürzenden Haus zu fliehen, oder hatte ihre körperliche Behinderung sie dazu verdammt, das Dach anzustarren, wie es auf sie herabstürzte und sie – wozu sollte man um den heißen Brei herumreden? – wie die sprichwörtliche Küchenschabe zerquetschte.
»But I am a chatterbox, ich bin eine Plaudertasche, Pardon«, sagte Orlando lachend und streichelte mit seinen Handschuhen über
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