Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
Vom Netzwerk:
die Hände von Laura Dïaz.
    Erst als sie in der Calle de Sullivan aus dem Taxi stiegen, nahm Orlando sie beim Arm und flüsterte ihr ins Ohr: »Erschrick nicht, liebste Laura, gleich siehst du all unsere Freunde von vor fast dreißig Jahren wieder, aber du wirst sie nicht gleich erkennen, drück meinen Arm, wenn du nicht sicher bist – laß mich nicht los, je t'en prie – , und ich sage dir ins Ohr, wer wer ist.
    Hast du Prousts ›Die wiedergefundene Zeitx gelesen? Nein? Nun, das ist die gleiche Situation. Der Erzähler kehrt nach dreißig Jahren in einen Pariser Salon zurück und erkennt die vertrauten Freunde seiner Jugendzeit nicht wieder. Als er sich den ›alten Puppen‹ gegenübersah, sagt Prousts Erzähler, ›war er gezwungen, sie nicht nur mit den Augen, sondern gleichzeitig mit dem Gedächtnis zu betrachten. Mit dem Alter‹, fügt er dann noch hinzu, ›ist es wie mit dem Tod. Einige begegnen ihm mit Gleichgültigkeit, nicht weil sie mehr Mut, sondern weil sie weniger Einbildungskraft als die anderen haben.‹«
    Orlando suchte auf der Tafel mit den Todesanzeigen auffällig nach dem Namen »Carmen Cortina«, um herauszufinden, in welcher Trauerkapelle sie aufgebahrt war.
    »Natürlich, der Unterschied zu Proust ist, daß er das Alter und die vergehende Zeit in einem eleganten Salon der guten französischen Gesellschaft entdeckt hat, während du und ich, die wir stolze Mexikaner sind, so etwas in einem Bestattungsunternehmen erfahren.«
    Es fehlte der aufdringliche Blumengeruch, der bei Trauerfeiern so oft zu Übelkeit führt. Dafür wirkten die Parfüms der anwesenden Frauen um so aufdringlicher – die letzten Wolken eines Himmels, der kurz vor dem endgültigen Erlöschen stand. Nacheinander gingen sie an Carmen Cortinas offenem Sarg vorüber. Der Einbalsamierer hatte sie so sorgsam wiederhergestellt, daß sie weder sich selbst noch sonst einem Menschen glich, der früher einmal gelebt hatte. Sie war eine Schaufensterpuppe, als hätte ihr ganzes bewegtes Leben als Gastgeberin der guten Gesellschaft sie auf diesen abschließenden Moment vorbereitet, den letzten Akt eines Schauspiels, das zu ihren Lebzeiten kein Ende gefunden hatte: eine Puppe auf weißen Seidenpolstern in einer Plastikvitrine, mit sorgfältig mahagonibraun gefärbtem Haar, glatten rotgeschminkten Wangen, einem fast obszön aufgeblähten Mund, halb zu einem Lächeln geöffnet, der am Tod zu lutschen schien, als wäre er ein Karamelbonbon, einer Nase, die mit Watte vollgestopft war, weil aus ihr der Rest von Carmens Lebenssaft entweichen konnte, und geschlossenen Augen – aber ohne die Brille, der sich die Hostess mit der Klugheit einer eleganten Kurzsichtigen bedient hatte, mal als kleine Banderilla, mal als Ersatzfinger, als erschöpft herabhängendes Schmuckstück oder bedrohliches Stilett; auf jeden Fall als Taktstock, mit dem Carmen Cortina ihre glanzvolle gesellschaftliche Operette dirigierte.
    Laura erkannte Carmen ohne ihre Brille nicht wieder, beinahe hätte sie sich vom unbeirrbar spöttischen Ton ihres früheren Verehrers anstecken lassen und Orlando vorgeschlagen, eine barmherzige Seele solle dem Leichnam doch seine Brille aufsetzen. Carmen war imstande, die Augen aufzuschlagen. Wiederaufzuerstehen…
    Und Laura erkannte auch jene Frau mit dem überquellenden Fleisch nicht wieder, die indes ihre perlmuttfarbene Haut bewahrt hatte; sie saß in einem Rollstuhl und wurde vom Maler Tizoc Ambriz geschoben, bei dem es keine Schwierigkeiten mit dem Wiedererkennen gab, tauchte er doch immer wieder auf den Kultur- und Gesellschaftsseiten der Zeitungen auf; durch seine Farbe, die Haltung und seine Haut hatte er sich in eine schuppige, schwarz und silbern glänzende Sardine verwandelt. Er war mager und klein und trug wie immer blaue Baumwollsachen – Hose, Hemd und Jacke –, als wollte er sich absondern, obwohl er dadurch gleichzeitig auch eine Mode bestimmte.
    Hingebungsvoll schob er den Rollstuhl der Frau mit dem Schlafzimmerblick und den unsichtbaren Brauen, »aber o weh!« – rief Orlando – nicht mehr mit dem ebenmäßigen Gesicht jener Reife, die sich als ewige Jugend ausgab und wie vor dreißig Jahren gerade noch allzu üppige Formen vermeiden konnte, die Lauras Freund mit einer voll ausgereiften Frucht verglichen hatte. Die man frisch gepflückt hätte.
    »Das ist Andrea Negrete. Erinnerst du dich an die Vernissage ihres Bildes von Tizoc, in Carmens Etagenwohnung? Nackt, wie sie war – auf dem Bild – selbstverständlich

Weitere Kostenlose Bücher