Die Jahre mit Laura Diaz
daß sie Angst ergriff, wenn sie allein mit der Leica in diese Welt eindrang, die im Elend lebte und sich durch Verbrechen äußerte. Sie fotografierte einen mit Messerstichen Getöteten auf einer Straße mit aufwirbelndem Staub, hatte Angst vor den Ambulanzen mit den betäubend laut heulenden Sirenen gleich am Rand des Verbrecherbezirks, fotografierte die von ihren betrunkenen Männern mit Fußtritten umgebrachten Frauen, gleich nach ihrer Geburt in eine Müllgrube geworfene Säuglinge, im Stich gelassene Alte, die tot auf Matten lagen, die ihnen auch als Leichentuch dienen würden, eine Woche nach ihrem Tod verlangten sie ein Loch in der Erde, waren so ausgetrocknet, daß sie nicht einmal stanken; das alles fotografierte Laura Dïaz, und sie war Juan Francisco dankbar, daß er sie vor diesem Schicksal bewahrt hatte, dem Schicksal der ringsum herrschenden Gewalt und des Elends.
Sie betrat eine Kneipe der verlorenen Stadt, in der alle erschossen waren, die Männer hatten sich gegenseitig ermordet, auf unbegreifliche Weise, wie in einem Zusammenprall von Verbrechen, alle anonym, doch von Lauras Foto vor dem Vergessen bewahrt, und sie war dankbar, daß Jorge Maura sie vor gewalttätigen Ideologien gerettet hatte, vor der Angst, mit der sie als Frau die Gedankenwelt betrachtet hatte, in die Jorge sie einführte: In ihrer Erinnerung bewahrte sie ein unmögliches Foto, das Foto Jorges, der auf Lanzarote den Fußboden des Klosters ableckte, sich und den Geist des blutigen zwanzigsten Jahrhunderts von Ideologien reinigte.
Jorge Maura war wie das Gegengift zu der Gewalt, in der die Kinder lebten, die sie in Abwasserkanälen und Tunneln fotografierte, Laura offenbarte die unantastbare Schönheit der preisgegebenen Kindheit, als reinigte ihre Kamera die von ihr Fotografierten, wie Jorge den Fußboden des Klosters gereinigt hatte: Kinder, die vom Rotz befreit wurden, von den Triefaugen, den schmutzverschmierten Haaren, den rachitischen Armen, den haarlosen Krätze-Schädeln, den von Frambösie verfärbten Händen, den nackten Füßen mit ihrer Schlammkruste als einzigem Schuhwerk, und dabei war sie auch Harry dankbar, weil er sich als zu schwach für treue Freundschaft erwiesen und sich nach dem einzigartigen, unwiederholbaren Augenblick des Heldentums zurückgesehnt hatte. Sie dachte an das großartige Foto des gefallenen Milizsoldaten, das Robert Capa im Spanienkrieg aufgenommen hatte.
Häufig besuchte sie Polizeikommissariate und Krankenhäuser. Um die alte, grauhaarige Frau mit dem weiten Rock und den kaputten Sandalen (das war Laura) kümmerte man sich nicht, man ließ sie eine andere Frau fotografieren, die nicht atmete und der eine leere Cola-Flasche zwischen den Schenkeln steckte, einen Drogensüchtigen, der sich in seiner Zelle zusammenkrümmte, an den Wänden kratzte und sich Mauerkalk in die Nase stopfte, die zu Hause oder auf den Gefängnisgängen – es kam am Ende auf das gleiche heraus – verprügelten Männer und Frauen, die bluteten und mehr unter allgemeiner Orientierungs-losigkeit litten, als daß sie von den durch Faust- und Knüppelhiebe geschwollenen Augenlidern behindert wurden, die Ankunft der grünen Minnas, die in die Polizeireviere strömenden Huren und Schwulen, Transvestiten und Dealer, die nächtliche Ausbeute an kleinen Zuhältern.
Die menschlichen Existenzen, die vor Kneipentüren, aus Hausfenstern und unter Lastwagenräder geworfen wurden. Die zermalmten Leben, denen kein anderer Blick mehr blieb als die Kamera von Laura Di'az, von ihr, Laura, der mit all ihren Erinnerungen, Liebesgeschichten und Freundschaften belasteten, doch nie wieder einsamen Laura, von ihr allein, die von keinem mehr abhing, die ihrem Sohn Danton seine Schecks zurückgab und pünktlich die Miete für das Apartment an der Plaza Rio de Janeiro bezahlte, indem sie ihre Einzelfotos und Bildberichte zunächst an Zeitungen und Zeitschriften verkaufte, danach auch an Privatkunden, nachdem sie in der Galerïa Juan Martin an der Galle de Génova ihre erste Ausstellung hatte; und schließlich wurde sie als ein weiterer Star von der Fotoagentur Magnum engagiert, der Agentur von Cartier-Bresson, Inge Morath und Robert Capa.
Sie, die Künstlerin, die die Leiden dieser Stadt, doch auch deren Freuden darstellte, Laura und das Neugeborene, das von den Augen seiner Mutter so bekleidet wurde, als wäre es das leibhaftige Christuskind, der wiedergeborene Jesus. Laura und der Mann mit seinem zerschnittenen Gesicht und seiner
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