Die Jahre mit Laura Diaz
mehr das Zentrum, sondern ein Stadtviertel unter vielen, wenn auch das älteste und in gewisser Hinsicht das durch seine Geschichte und Architektur angesehenste. Rund um den herabgestürzten Engel der Unabhängigkeit entstand ein neues Zentrum zu beiden Seiten des Paseo de la Reforma, die städtische Colonia Juârez und die flußreiche Colonia Cuauhtémoc.
Täglich siedelten zweitausend Menschen nach Mexico-Stadt über, das waren sechzigtausend im Monat, auf der Flucht vor Hunger, verdorrtem Land, Ungerechtigkeit und unbestraften Verbrechen brutaler Ortstyrannen, auf der Flucht vor Gleichgültigkeit, aber auch verlockt von der Stadt, die derart verheißungsvoll erschien, Wohlstand und sogar Schönheit versprach. Kündigten die Bierreklamen nicht phänomenale Blondinen an, und waren nicht alle Personen der immer populäreren Fernsehserien reiche, gutgekleidete Kreolen?
Das alles ließ nach Lauras Meinung jedoch nicht die Frage verstummen, woher der unaufhaltsame Übersiedlerstrom kam. Und wo landeten sie schließlich? Wie lebten sie? Wer waren sie?
Das war Laura Dïaz' erster großer Bildbericht. Er faßte ihre ganze Lebenserfahrung zusammen, ihre Herkunft aus der Provinz, ihr Leben als junge Ehefrau, die zweifache Mutterschaft, ihre Liebesgeschichten und das, was sie mit sich gebracht hatten – die spanische Welt Mauras, die schreckliche Erinnerung an Raquels Martyrium in Buchenwald, die erbarmungslose Hinrichtung Pilars vor den Mauern von Santa Fe de Palencia, die Verfolgung Harrys durch McCarthy, den doppelten Tod Frida Kahlos, zuerst regungslos, und dann durch das Feuer zu neuem Leben erwacht. All das vereinte Laura in einem einzigen Bild, das sie an einem jener namenlosen Orte aufgenommen hatte, die wie Fetzen und Flicken auf dem großen bestickten Rock von Mexico-Stadt auftauchten.
Verlorene Orte, anonyme Orte, die aus den Einöden des trockenen Tals emporwuchsen, inmitten von Steinbrocken und Mezquitebäumen, mit irgendwie zusammengenagelten Hütten, Höhlen aus Pappkartons und Blech, der nackten Erde als Fußboden, vergifteten Gewässern und verlöschenden Kerzen, bis der Einfallsreichtum des Volkes herausfand, wie man von der Straßenbeleuchtung und den Hochspannungsmasten Strom abzweigen konnte.
Das erste Bild, das Laura Dïaz nach dem der toten Frida Kahlo machte, war das des gefallenen Engels, der am Fuß der schlanken Säule zersplitterten Statue, mit den vom Leib getrennten Flügeln, dem gespaltenen, blinden Gesicht, dem Gesicht Señorita Antonieta Rivas Mercados, die sich Jahre später das Leben nahm, in Paris, am Hauptaltar von Notre-Dame, aus Liebe Zu José Vasconcelos, dem Philosophen und ersten Erziehungsminister. Vasconcelos' Memoiren »Kreolischer Odysseus« wirkten durch ihre Offenherzigkeit sensationell, als sie 1935 erschienen, und Orlando prägte über sie einen seiner gelungensten Sätze: »Das ist ein Buch, das man stehend lesen muß…«
Als Laura die zerbrochene Gestalt des Engels fotografierte, der eine Geliebte des Philosophen gewesen war, zwang sie sich, die Zeiten jener Stadt des »unsterblichen Frühlings« zu ergründen, die doch so ganz ohne Frühling zu sein schien. Der Januar war kalt. Staubwolken im Februar. Der März glühend heiß. Im Sommer regnete es. Im Oktober erinnerten die acht stürmischen Tage um das Fest des heiligen Franziskus, den 4. des Monats, daran, daß der Schein trog. Der Dezember brachte klares Licht. Der Januar war kalt.
Sie dachte an die Jahre, die sie in dieser Stadt gelebt hatte, und sie wurden überlagert vom Gesicht Vasconcelos‹, der vom jungen, romantischen Studenten zum mutigen geistigen Guerillakämpfer der Revolution wurde, dann zum hochherzigen Erzieher mit grenzenloser Stirn, der Diego Rivera die Möglichkeit gab, Wandbilder zu malen, zum Philosophen des Bergsonschen »Élan vital«, zum amerikanophilen Bewunderer der »Kosmischen Rasse«, zum Präsidentschaftskandidaten, der gegen den »Obersten Führer« Galles und dessen Hofnarren Luis Napoleon Morones – der Juan Francisco korrumpiert hatte – antrat, und schließlich zum verbitterten Emigranten, der damit endete, daß er, alt und rappelköpfig geworden, Franco und den Faschismus lobte und seine eigenen Bücher von anstößigen Stellen säubern ließ.
Vasconcelos war ein bewegtes, dramatisches Ebenbild des revolutionären Mexiko, seine herabgestürzte Geliebte Antonieta Rivas Mercado, der Engel der Unabhängigkeit, das starre, übernatürliche Abbild dieses Vaterlandes, in dessen
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