Die Jahre mit Laura Diaz
gebändigten Gewalttätigkeit, der andächtig das Bild der Heiligen Jungfrau von Guadalupe küßte. Laura und die kleinen Freuden wie auch die tragischen Vorahnungen eines Debütantinnenballs, einer Hochzeit, einer Taufe: Wenn Lauras Kamera den Augenblick erfaßte, vermochte sie auch seine Zukunft zu zeigen, diese Macht hatte ihre Kunst, eine Augenblicklichkeit mit Nachwirkungen, ein anpassungsfähiges Auge, das dem Kitsch Gefühl und Achtung, der rohesten Gewalt liebevolle Verletzlichkeit verlieh. Ihre Kritiker sagten es, und ihre Bewunderer empfanden es: Laura Dïaz ist mit sechzig Jahren eine große mexikanische Fotokünstlerin, die beste nach Alvarez Bravo, die Priesterin des Unsichtbaren (so nannte man sie), sie ist die Dichterin, die mit Licht schreibt, die Frau, die fotografieren kann, was Posada gezeichnet hat.
Während Laura Di'az zu Unabhängigkeit und Ruhm gelangte, behielt sie das Foto der toten Frida für sich, niemals würde sie es veröffentlichen, es gehörte zu ihrer überreichen Erinnerung, zum Gefühlsarchiv eines Lebens, das auf einmal, im reifen Alter, späte, aber beständige Blüten trieb. Fridas Foto stand für all die Fotos, die Laura während der Jahre nicht gemacht hatte, als sie mit anderen zusammenlebte, es war ein Talisman. An Diegos und Fridas Seite hatte sich in ihr, ohne daß sie es wahrgenommen hätte, wie in einem Traum jene künstlerische Sensibilität ausgebildet, die die Hälfte ihrer Jahre brauchte, um sich endlich zu offenbaren.
Sie beklagte sich nicht über jene Zeit und verurteilte sie auch nicht als Abfolge oder Chronik von Unterwerfungen unter eine Männerwelt, wie sollte sie auch, waren die Seiten dieser Chronik doch Heimstatt nicht nur zweier Santiagos, sondern auch ihrer Geliebten Jorge Maura, Orlando Ximénez und Harry Jaffe, ihrer Eltern, ihrer Tanten, des fröhlichen schwarzen Straßenfegers Zampayita und ihres so bemitleidenswerten wie (ihr gegenüber) mitleidigen Ehemanns Juan Francisco. Laura stellte sich ihr Auge als eine Kamera vor, die alles erfassen konnte, was sie in den sechs Jahrzehnten ihres Lebens gesehen und gefühlt hatte, und sie erschauerte. Kunst war Auswahl. Kunst war der Verlust von fast allem, um dafür sehr wenig zu bewahren.
Unmöglich ließen sich Kunst und Leben gleichzeitig bewältigen, und Laura Dïaz war am Ende dankbar, daß ihr Leben der Kunst vorausgegangen war, weil diese, wäre sie vorzeitig und womöglich sogar in verschwenderischer Fülle gekommen, das Leben hätte vernichten können.
Als sie die Malereien und Zeichnungen ihres Sohnes Santiago des Jüngeren aus den Trümmern des Familienhauses in der Ave-nida Sonora holte, um sie in ihre neue Wohnung an der Plaza Rio de Janeiro zu bringen, entdeckte sie etwas, das eigentlich offenkundig war. Im Haufen der Bleistift- und Pastellzeichnungen, der Skizzen und zwei Dutzend Ölbilder befand sich auch das Bild des Mannes und der Frau, die nackt waren und einander anblickten, ohne sich zu berühren, die zwar nacheinander verlangten, sich aber mit dem Verlangen zufriedengaben.
Laura hatte es eilig, das baufällige Familienhaus zu verlassen, sich in ihrer eigenen Wohnung einzurichten und ihr neues unabhängiges Leben zu beginnen, in der Stadt umherzustreifen und deren Leben zu fotografieren, inspiriert, wie sie sich sagte, von Diego Rivera und Frida Kahlo. Und in der Eile betrachtete sie die Bilder ihres Sohns zunächst nicht eingehender. Vielleicht hatte sie das nie getan, hatte sich nie wirklich mit seinen Bildern, die Zeugnis gaben von seinem Leben, auseinandergesetzt, um die mütterliche Liebe ihrer mütterlichen Seele lebendig zu erhalten. Vielleicht mußte sie erst ihre eigene Berufung entdecken, um die ihres Sohnes zu erkennen. Als sie ihre eigenen Fotos ordnete, begann sie auch die Malereien und Zeichnungen von Santiago Löpez-Dïaz zu ordnen, und unter den zwei Dutzend Ölbildern wurde ihre Aufmerksamkeit von diesem einen gefesselt, das sie jetzt betrachtete: dem nackten Paar, das sich gegenseitig ansah, ohne sich zu berühren.
Zuerst stand sie dem Werk kritisch gegenüber. Die eckig-gekrümmten, hervortretenden grausamen Linien der Figuren hatten ihren Ursprung in Santiagos Bewunderung für Egon Schiele und im gründlichen Studium der Wiener Alben, die wie durch ein Wunder in die Deutsche Buchhandlung der Colonia Hipo-dromo gelangt waren. Der Unterschied, das bemerkte Laura sofort, als sie Alben und Ölbild verglich, bestand jedoch darin, daß Schieies Gestalten beinahe immer
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