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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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Namen die Helden gekämpft hatten, die es verehrten, aber auch zugrunde richteten. Doch beide, der Philosoph und sein Engel, waren heute nur noch Relikte in einer Stadt, die sie nicht mehr wiedererkennen würden und die Laura bei ihren Streifzügen fotografierte.
    Und während sie ihren ersten großen Bildbericht schuf, ihre ganze Lebenserfahrung darin verarbeitete, begriff Laura Dïaz, daß sie sich zwischen Harry Jaffes Tod in Cuernavaca und Carmen Cortinas Tod in Mexico-Stadt immer deutlicher diese eine Frage gestellt hatte: Was tue ich im nächsten Jahr? In ihrer Jugendzeit war alles unvorhersehbar gewesen, naturgegeben, notwendig und trotz allem gefällig. Besonders Fridas Tod erinnerte sie an ihre eigene Vergangenheit wie an eine verblaßte Fotografie. Das Erdbeben, die Begegnung mit Orlando und Carmens Tod zwangen sie nachzudenken: Kann ich der Vergangenheit ihren verlorenen Mittelpunkt, ihre fehlende Klarheit zurückgeben?
    Sie schlief anders. Früher hatte sie geträumt, ohne zu grübeln, aber voller Sorgen. Heute grübelte sie weder, noch machte sie sich Sorgen. Sie schlief, als wäre alles schon geschehen. Sie schlief wie eine alte Frau.
    Sie wehrte sich dagegen. Sie wollte wieder so schlafen, als begänne ihr Leben gerade erst, wenn sie erwachte, als wäre die Liebe ein noch unbekanntes Leid. Sie wollte mit der Absicht erwachen, jeden Morgen aufmerksam zu betrachten und sich einzuprägen, was sie an dem Punkt sah, der ihren Gefühlen am ge-nauesten entsprach, dort, wo Herz und Kopf übereinstimmen. Bisher hatte sie die Dinge angesehen, ohne richtig hinzusehen, hatte nicht gewußt, was sie mit ihren täglichen Bildern machen sollte, es waren Münzen, die ihr der Tag in die leeren Hände legte.
    Die Stadt und der Tod weckten sie. Mexico umschloß sie wie eine große, schlafende Schlange. Laura erwachte, während die Schlange schwerfällig atmete, sie umschlang, ohne sie zu ersticken. Sie wachte auf und fotografierte die Schlange.
    Als erstes hatte sie die tote Frida aufgenommen. Jetzt fotografierte sie das Haus der Familie an der Avenida Sonora, bevor der von ihrem Sohn angeordnete Abriß begann. Sie fotografierte das ramponierte Äußere, die unbewohnbaren Innenräume, die Garage, in der Juan Francisco den Wagen untergestellt hatte, der ihm von der CROM geschenkt worden war, das Eßzimmer, in dem ihr Mann mit den Arbeiterführern zusammenkam, das Wohnzimmer, in dem sie geduldig wie eine kreolische Pénélope auf den Augenblick der Gnade und Zweisamkeit wartete, wenn ihr Mann nach Hause kam, die Türschwelle, an der die verfolgte Nonne, Gloria Soriano, Zuflucht gesucht hatte, die Küche, in der das Tantchen Maria de la O Veracruzaner Leckerbissen zubereitete – den Wänden entströmten noch immer die Düfte von scharfem Chilipfeffer, Portulak und Kümmel –, den Warmwasserboiler, der mit vergilbten Zeitungen beheizt wurde und in dem sich die Figuren der Macht, des Verbrechens und der Unterhaltung verzehrten: Die Flammen verschlangen Galles und Morones, Lombardo und Ävila Camacho, Trotzki und Ramon Mercader, die ermordete Chinta Aznar und den Frauenschänder und wahnsinnigen Mörder Sobera de la Flor, den dickbäuchigen Roberto Soto und Cantinflas, die Rumbatänzerin Mèche Barba und den singenden Charro Jorge  Negrete, die Beatles aus der Hafenstadt Liverpool, die Werbeanzeigen »Besser geht's mit Aspirin« und »Zwanzig Millionen Mexikaner können sich nicht irren«, die Stierkämpfe Manoletes und Arruzas, die städtebaulichen Großtaten des Bürgermeisters Ernesto Uruchurtu und die Olympiamedaille Joaquin Capillas, alles verschlang das Feuer, wie der Tod das Schlafzimmer verschlang, aus dem ihr Sohn Santiago eine heilige Stätte gemacht hatte, einen Quell von Bildern, eine Höhle, in der die Schatten Wirklichkeit waren und sich Bilder und Zeichnungen häuften, und schließlich Dantons Geheimzimmer, das niemand betreten durfte, ein unwirkliches Zimmer, das mit nackten, aus der Zeitschrift Vea herausgerissenen Frauen geschmückt oder selbstkasteiend karg sein mochte, bis Danton sein persönliches Glück fand, wie er es tatsächlich tat; und das eheliche Schlafzimmer, in dem Laura von den Bildern der Männer heimgesucht wurde, die sie geliebt hatte. Warum und wie hatte Laura sie geliebt?
    Sie zog aus, um die verlorenen Viertel des großen städtischen Elends zu fotografieren und entdeckte sich selbst, gerade während sie das anvisierte, was ihrem eigenen Leben am fremdesten war, denn sie leugnete nicht,

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