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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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ihrer Kamera gesehen hatte, blieb an diesem Augusttag 1970 vor dem Spiegel ihres Badezimmers stehen und fragte sich: Wie sehen mich die anderen?
    Vielleicht hatte sie jene Erinnerung an eine Erinnerung bewahrt, die unser früheres Gesicht ist, nicht der einfache Rest der auf der Haut zurückbleibenden Jahre, nicht deren übereinander-liegende Schichten, sondern so etwas wie ein klares Bild: Ich bin so, wie ich mich in diesem Augenblick sehe, so bin ich immer gewesen. Der nächste Augenblick mag kommen, doch es ist immer nur ein einzelner Augenblick, selbst wenn ich in meinem Kopf alles gegenwärtig habe. Was zum Geist gehört, wird niemals aus ihm verschwinden, alles vergeht, außer dem, was für immer in meinem Gedächtnis lebt.
    Ich bin das Mädchen aus Catemaco, die Debütantin von San Cayetano, die Braut aus Xalapa, die junge Ehefrau in Mexico-Stadt, die liebevolle Mutter und die untreue Gattin, die unbeirrbare Gefährtin Harry Jaffes, die Zuflucht meines Enkels Santiago, doch vor allem bin ich die Geliebte Jorge  Mauras, von allen Gesichtern meines Lebens bewahre ich dieses eine in meinen Gedanken als das Gesicht aller Gesichter, das Antlitz, das alle übrigen enthält, das Abbild meines Glücks und meiner Leidenschaft, das Angesicht, das die Masken meines Lebens trägt, mein letzter Gesichtsknochen, der übrigbleibt, wenn der Tod mein Fleisch verschlingt.
    Der Spiegel zeigte ihr nicht das Gesicht der Laura Dïaz der dreißiger Jahre, das sie sich als ewig vorgestellt hatte, obwohl sie wußte, daß es vergänglich war. Sie las sehr viele Texte über Anthropologie und das alte Mexiko, um die Gegenwart, die sie fotografierte, besser zu verstehen. Die alten Mexikaner hatten das Recht, sich für den Tod eine Maske auszusuchen, ein ideales Gesicht für die Reise nach Mictlan, dem Jenseits der Indios, das zugleich Hölle und Paradies war. Wenn Laura eine India gewesen wäre, hätte sie die Maske ihrer Liebestage mit Jorge  ausgesucht und sie über allen anderen getragen, denen ihrer Kindheit und Jugend, ihrer Erwachsenenjahre und ihres Alters. Nur die Agonie ihres Sohns Santiago würde mit jener leidenschaftlichen Liebe zu Maura wetteifern, aber diese Liebe gab ihr Glücksverlangen wieder. Sie bestimmte das geistige Bild, das sie sich von sich selbst machte und das sie an diesem Augustmorgen 1970 im Spiegel sehen wollte. Doch der Spiegel war an diesem Morgen der Frau treuer als die Frau selbst.
    Sie hatte sich immer sehr sorgfältig um ihre äußere Erscheinung gekümmert. Ganz früh schon, als sie die lächerlichen Wandlungen beobachtete, denen die Frisuren Elizabeth Garcfa-Duponts unterlagen, begriff sie, daß sie sich ein für allemal auf einen persönlichen Stil festlegen und den nie wieder aufgeben sollte. Das bestätigte ihr Orlando: »Zuerst änderst du deine Frisur, und du fühlst dich zufrieden und wie neu, aber dann merken die Leute, daß sich in Wirklichkeit dein Gesicht verändert hat, seht euch die Krähenfüße an, seht euch die Falten auf der Stirn an, ach, ach, ach, sie ist längst in die Jahre gekommen, sie ist eine alte Schachtel.« Laura Dïaz behielt aus Spielerei die Stirnlocke, mit der sie sich bereits als Mädchen geschmückt hatte, um die hohe, breite Stirn zu verdecken und das lange Gesicht zu verkürzen. Als sie Jorge  Maura kennenlernte, beschloß sie, den Bubikopf der mexikanischen Nachahmerinnen Clara Bows abzulehnen, danach das von der seidig zarten Jean Harlow in Mode gebrachte Platinblond, und schließlich die Dauerwelle der einheimischen Irene Dünnes. Sie zog das Haar im Nacken straff und betonte so die breite Stirn und die »italienische« Nase, wie Orlando sie nannte, die aristokratisch fein hervortrat, aber auch so nervös, als wollte sie ständig alles erkunden. Sie verschmähte das wie von einem Bienenstich durchbohrte Kußmündchen Mae Murrays, der »Lustigen Witwe« von Stroheims, und den ungeheuer breiten Mund Joan Crawfords, der wie ein furchterregendes Eingangstor zur Hölle des Geschlechts bemalt war. Sie ließ ihre schmalen Lippen ungeschminkt, die das gotische Bildwerk ihres Kopfes prägten, der Erbin von Rheinländern und Kanariern, von Ahnen aus Santander und Murcia, und verließ sich ganz auf die Schönheit ihrer Augen, der braunen Augen mit einem beinahe goldenen Schimmer, der in der Abenddämmerung grünlich und in der Erregung silbern wirkte. Jorge  Maura hatte gesagt: »Ich komme mit deinem Blick, Laura, meine Liebste, laß mich deine offenen Augen sehen, wenn

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