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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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man in Mexiko sagte. Während Laura nach Hause lief, vertrieb sie sich die Zeit, indem sie die ungelösten Geheimnisse heraufbeschwor, eines nach dem anderen. Hatte Armonia Aznar wirklich gelebt, hatte jene unsichtbare Frau in der Dachkammer des Hauses in Xalapa gewohnt, oder war sie nur ein Vorwand gewesen, um die Verschwörungen der katalanischen und Veracruzaner Anarchosyndikalisten zu tarnen? War Armonia Aznar ein Trugbild, das Orlando Ximénez in seiner jugendlichen, mutwilligen, unbändigen Phantasie ersonnen hatte? Nie habe ich die Leiche Armonia Aznars gesehen, dachte Laura. Wenn ich es mir genau überlege, hat man mir nur davon erzählt. Sie stank nicht, haben sie mir gesagt.
    Hatte sich ihre Großmutter Côsima Reiter wirklich in den schönen, brutalen Chinaco verliebt, den Protz von Papantla, der ihr die Finger abgeschlagen und sie für den Rest ihrer Tage in tiefe Grübeleien gestürzt hatte? Sehnte sich ihr Großvater Felipe Kelsen manchmal nach der entschwundenen rebellischen Tugend in Deutschland zurück, oder hatte er sich schließlich ganz mit dem Schicksal eines wohlhabenden Kaffeepflanzers in Catemaco zufriedengegeben? Hätten die Tanten Hilda und Virginia mehr sein können, als sie waren? Wenn sie ihre Ausbildung in Deutschland erhalten hätten, ihnen also der Vorwand ihrer Isolation in einem finsteren Winkel des mexikanischen Urwalds gefehlt hätte, wäre dann die eine in Düsseldorf eine anerkannte Konzertpianistin und die andere eine berühmte Schriftstellerin geworden? Das Schicksal, das Tantchen Maria de la O erwartet hätte, war kein Geheimnis, wenn Großmutter Côsima sie nicht resolut von der Mutter des Mädchens, der schwarzen Prostituierten, getrennt und in der Kelsen-Familie aufgenommen hätte. Die Gutherzigkeit und Rechtschaffenheit ihres eigenen Vaters Don Fernando Dïaz war kein Geheimnis, ebensowenig der Schmerz, den der Tod des verheißungsvollen jungen Mannes, des ersten Santiago, gebracht hatte, der von den Soldaten des Porfirio Dïaz am Golf erschossen wurde. Doch Santiago selbst war ein Geheimnis, er hatte seine politischen Taten aus Notwendigkeit und sein Privatleben aus freiem Willen vor allen verborgen. Vielleicht war dies ein weiterer Mythos, den Orlando Ximénez erfunden hatte, um Laura Dïaz zu verführen: indem er sie beunruhigte und ihre Phantasie erregte.
    Wie hatte das Leben ihres Ehemanns Juan Francisco begonnen, der sich zwanzig Jahre lang so ruhmreich auf den öffentlichen Plätzen auszeichnete, bis er allen Schwung verlor und schließlich starb, während er gerade den Darm entleerte? Gab es nichts vor und nichts nach dem Zwischenspiel des Ruhms? Wurde er aus Scheiße geboren und starb auch dort? War das Zwischenspiel vielleicht das ganze Werk und kein bloßes Intermezzo? Gab es nichts weiter? Maßlos schmerzliche Geheimnisse: Wenn ihr Sohn Santiago am Leben geblieben wäre, wenn sich sein verheißungsvolles Talent vor aller Augen entfaltet hätte, wenn Danton nicht diesen ehrgeizigen Charakter hätte, der ihn reich und korrupt hatte werden lassen, und wenn der dritte Santiago, der in Tlatelolco umgekommen war, sich mit dem von seinem Vater vorgeplanten Schicksal abgefunden hätte, würde er dann heute noch leben? Und was dachte seine Mutter Magdalena Ayub Longoria von alldem, von diesen Leben, die ihr gehörten und die sie mit Laura Dïaz teilte?
    Hatte Harry seine linken Genossen vor dem Ausschuß zur Untersuchung unamerikanischer Umtriebe denunziert?
    Und schließlich und vor allem: Was war aus Jorge  Maura geworden, lebte er, lag er im Sterben, war er tot? Hatte er Gott gefunden? Hatte Gott ihn gefunden? Hatte Jorge  Maura nur deshalb sein Heil so lange gesucht, weil es ihn schon gefunden hatte?
    Bei diesem endgültigen Mysterium, dem Schicksal Jorge  Mauras, hielt Laura Dïaz inné und verlieh ihrem Geliebten ein Privileg, das sie bald auch allen übrigen Hauptpersonen der Jahre mit Laura Dïaz zuteil werden lassen sollte: das Recht, ein Geheimnis mit ins Grab zu nehmen.
    Als der dritte Santiago dem Massaker auf der Plaza de las Très Culturas zum Opfer fiel, hielt Laura es für selbstverständlich, daß Lourdes Alfaro, die junge Witwe, weiter mit ihrem Kind bei ihr lebte, Santiago, dem vierten Namensvetter des Apostels Jakobus des Älteren, der Zeuge der Todesstunde und Verklärung der Opfer: der Jakobusse, der »Donnersöhne« und Nachfahren des ersten, auf Weisung des Herrschers Herodes hingerichteten Jüngers Christi; der vierte der Santiagos, die von

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