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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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erklärtest, du wärest nicht, was du sagst, und auch nicht, was du scheinst. Du näherst dich allzusehr meinem Mysterium, hast du mir vorgeworfen.«
    »Nein, ich habe dich gewarnt.«
    »Du hast es mir unter die Nase gerieben, Orlando. Ich möchte mein Geheimnis lieber für mich behalten, hast du mir damals geschrieben. Ohne Mysterium, hast du hinzugesetzt, würde unsere Liebe den Reiz verlieren.«
    »Aber ich habe dir auch gesagt: Ich werde dich immer lieben…«
    »Orlando, Orlando, mein armer Orlando. Jetzt sagst du mir, daß die Zeit gekommen sei, zu heiraten. Ist also Schluß mit dem Geheimnis?«
    Mit wirklicher Zuneigung streichelte sie seine sehnige, kalte Hand.
    »Orlando, sei dir selbst treu, bis zum Ende. Entziehe dich weiter jeder verhängnisvollen Entscheidung. Weiche jedem endgültigen Abschluß aus. Sei Orlando Ximénez, laß alles in der Schwebe, laß alles offen und unvollendet. Das ist deine Natur, hast du das nicht begriffen? Es ist das, was ich an dir immer am meisten bewundert habe, mein armer Orlando.«
    Orlandos Whiskyglas verwandelte sich zunehmend in eine Glaskugel. Als wollte der alte Mann wahrsagen. »Ich hätte dir damals einen Heiratsantrag machen sollen, Laura.«
    »Wann?« Sie spürte, wie ihre Kräfte schwanden.
    »Willst du mir erklären, ich sei das Opfer meiner eigenen Perversität geworden? Habe ich dich für immer verloren?«
    Er wußte also nicht, daß dieses »für immer« schon ein halbes Jahrhundert früher eingetreten war, beim Tanz auf der tropischen Hazienda. Orlando hatte nicht gemerkt, daß er gleich damals, als sie sich kennenlernten, zu Laura »niemals« gesagt hatte, während er »für immer« sagen wollte und einen Aufschub mit dem verwechselte, was er soeben gesagt hatte: »Ich wollte nie, daß unsere Beziehung zur Gewohnheit wurde – ich will nicht, daß du dich meinem Mysterium allzusehr näherst.«
    Laura zitterte vor Kälte. Orlando hatte ihr eine Ehe in den Tod vorgeschlagen. Die Anerkennung, daß sich jetzt kein Spiel mehr spielen, keine Ironie mehr zur Schau stellen, kein Paradox mehr ergründen ließ. War Orlando sich bewußt, daß er, wenn er so redete, sein eigenes Leben, die geheimnisvolle und unvollendete Bestimmung seines ganzen Lebens verleugnete?
    »Weißt du was?« sagte Laura lächelnd. »Ich erinnere mich an unsere ganze Beziehung wie an einen Roman. Willst du sein glückliches Ende schreiben?«
    »Nein«, stotterte Orlando. »Ich will, daß er nicht endet. Ich will noch einmal von vorn anfangen.«
    Er führte das Glas an die Lippen, hielt es so nahe, daß es seine Augen verbarg. »Ich will nicht allein sterben.«
    »Vorsicht. Du willst nicht sterben, ohne zu wissen, was hätte sein können.«
    »That's right. What could have been. «
    Laura hatte Mühe, ihre Stimme zu beherrschen. Bekam sie einen hämmernden Klang, äußerte sie sich deutlich, faßte sie zusammen oder beschränkte sie sich auf wenige Worte, das alles jedoch mit der ganzen Zärtlichkeit, derer sie fähig war?
    »Was sein konnte, ist längst gewesen, Orlando. Alles ist genau so eingetreten, wie es geschehen mußte.«
    »Sollen wir uns damit abfinden?«
    »Nein, vielleicht nicht. Vielleicht sollten wir ein paar Geheimnisse mit ins Grab nehmen.«
    »Natürlich. Aber wo begräbst du deine Dämonen?« Orlando biß sich auf den abgemagerten Finger, an dem der schwere Goldring hin und her tanzte. »Wir alle tragen einen kleinen Teufel in unserem Inneren, der uns nicht einmal in der Stunde unseres Todes verläßt. Wir sind nie zufrieden.«
    Als Laura aus der Bar kam, lief sie lange durch die Zona Rosa, das Modeviertel, das die neue Jugend in Massen besuchte, die das Massaker von Tlatelolco überlebt hatte und im Gefängnis oder Café landete, beides waren Kerker, beides bedeutete Eingesperrtsein. Diese Jugend hatte im Gebiet zwischen der Avenida Chapultepec, dem Paseo de la Reforma und der Avenida Insurgentes eine Oase aus Cafés, Restaurants, Passagen und Spiegeln geschaffen, dorthin ging man, blieb stehen, sah sich an und bewunderte sich, führte die neuen Moden vor: Minirock und Maxigürtel, die schwarzen Lackstiefeletten, die Hosen, deren Beine so weit wie die von Matrosen waren, und die Beatle-Mähne. Die Hälfte der zehn Millionen Einwohner dieser nomadischen Stadt war jünger als zwanzig, und in der Zona Rosa konnten sie etwas trinken, sich produzieren, flirten, sehen und gesehen werden, wieder glauben, daß die Welt ohne Blutvergießen, ohne die schlaflosen Nächte der Vergangenheit

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