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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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Schwöre es. Ich kann allein auf mich aufpassen.«
    Laura schlug das Kreuz. Zum erstenmal wurde sie von jemandem gebraucht, obwohl dieser es nicht sagte; nicht sie bat um etwas, man erbat etwas von ihr, mit Worten, die »nein« sagten, aber »ja, Laura, hilf mir« meinten.
    Von jener Nacht an unternahmen die beiden jeden Sonnabend einen Spaziergang an der Mole. Sie hielt seine Hand, die, wie Laura fühlte, starr und angespannt war, solange die Wunde noch verheilte. Es war ihrer beider Geheimnis. Santiago wußte, daß er sich auf seine Schwester verlassen konnte, und Laura war stolz, weil Santiago es wußte. Erst jetzt, durch diese neue Beziehung zu ihrem Bruder, spürte Laura, daß sie nach Veracruz gehörte, daß sich Meer und Himmel hier in einer einzigen vibrierenden Bucht vereinten, Himmel und Meer in einem kräftigen Wirbel zusammenflössen, damit die leuchtende, klare Ebene hinter Veracruz ebenfalls vibrierte, bis sie sich im Urwald verlor. Ihm konnte sie die Geschichten aus Catemaco erzählen. Er würde ihr glauben, daß die mitten im Urwald stehende steinerne Frau kein Baum war.
    »Natürlich, die Figur stammt aus der Zeit der Kultur von El Zapotal. Wußte das dein Großvater nicht?«
    Laura schüttelte den Kopf, nein, Großvater wußte schließlich nicht alles, und die dunklen und nach Seife riechenden Korkenzieherlocken des Mädchens flogen hin und her.
    »Papa sagt immer: Santiago hat den ganzen Verstand der Familie für sich beansprucht, uns anderen hat er bloß Almosen übriggelassen.«
    Santiago entschuldigte sich dafür, daß er lachen mußte, und sagte, Laura wisse weit mehr als er über Bäume, Vögel, Blumen, die ganze Natur. Davon habe er keine Ahnung, er habe nur den Wunsch, eines Tages zu verschwinden, indem er sich in einen Wald verwandele, ein solcher Baum werde, wie ihn das Mädchen im Gedächtnis behalte, ein Rotholzbaum oder eine Araukarie, ein Liguster mit symmetrischen Blüten, ein Lorbeerbaum… »Nein, der ist böse.« »Aber schön.«
    »Er zerstört alles, verschlingt alles.« »Und ein Wollbaum?«
    »Nein, ein Wollbaum auch nicht. Auf seinen Zweigen sammeln sich die Drosseln und kacken alles voll.«
    Santiago lachte wieder und sagte dann: »Eine Christpalme, eine violette Lilie, eine westindische Tulpe«, und sie: »Ja, die ja, die ja, Santiago«, und sie lachte nicht mehr wie ein Mädchen, sagte sie sich überrascht, sie lachte wie eine Frau, wie jemand, der nicht mehr die kleine Laura mit den dunklen, nach Seife riechenden Korkenzieherlocken war. In der Gesellschaft Santiagos spürte sie, daß sie bisher wie Li Po, die chinesische Puppe, gewesen war. Nun würde alles anders werden.
    »Den Wollbaum kann man nicht umarmen. Dem wachsen Dolche aus dem Leib.«
    Sie betrachtete den verletzten Arm ihres Bruders, sagte aber nichts weiter.
    Er erwartete sie jeden Sonnabend an der Tür ihres gemeinsamen Hauses, als käme er von woanders, und brachte ihr jedesmal ein Geschenk mit, einen kleinen Blumenstrauß, eine Muschel, um das Rauschen des Ozeans zu hören, einen Seestern, eine Postkarte, ein Papierschiffchen, während Leticia beunruhigt von der Dachterrasse aus zusah, wo sie die Wäsche aufhängte (genau wie in Catemaco, sie schwärmte für die Kühle der an ihren Körper gedrückten frischgewaschenen Leintücher) und beobachtete, wie sich das Paar entfernte, ohne zu ahnen, daß ihr Mann vom Balkon des Saals aus ebenfalls den beiden nachsah.
    Was Laura auf diesen Spaziergängen erhielt, war mehr als nur Seemuscheln, Blumen und Seesterne. Ihr Halbbruder sprach mit ihr, als wäre sie keine zwiespältigen zwölf Jahre mehr, sondern einundzwanzig wie er, oder noch älter. Mußte er irgend jemandem sein Herz ausschütten, oder nahm er sie wirklich ernst? Glaubte Santiago, daß sie alles verstand, was er ihr erzählte? Für Laura war es wie ein Wunder, daß er sie ausführte und ihr diese Dinge offenbarte, nicht die kleinen Geschenke, sondern Dinge, die er in seinem Innern bewahrte.
    Eines Nachmittags, als er nicht zu ihrer Verabredung erschien, lehnte sie sich an die Hauswand (dort, wo die Geschäftsräume der Bank lagen) und wartete. Sie fühlte sich so schutzlos inmitten der Siesta haltenden Stadt, daß sie beinahe in ihr Zimmer zurückgerannt wäre. Da ihr das aber wie Desertion und Feigheit vorgekommen wäre (sie kannte zwar nicht das richtige Wort, doch von nun an kannte sie das Gefühl), dachte sie, lieber würde sie sich im Tropenwald verstecken und allein, in ihrer eigenen Zeit

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