Die Jahre mit Laura Diaz
aufwachsen, ohne diesen überaus schönen und intelligenten Jungen, der sie allzuschnell in ein Alter versetzte, das noch nicht das ihre war.
Sie lief los und entdeckte Santiago, der gleich um die Ecke an einer anderen Hauswand lehnte. Sie lachten. Sie küßten sich. Sie hatten sich mißverstanden. Sie verziehen einander.
»Ich dachte gerade, an einem See wäre ich es, die dich mitnehmen und dir Dinge zeigen könnte.«
»Ohne dich würde ich mich im Wald verlaufen, Laura. Ich bin aus der Stadt, aus dem Hafen. Die Natur erschreckt mich.« Sie sah ihn wortlos und fragend an. »Der Wald wird uns alle überleben. Dich und mich.« Sie liefen zu den Docks, wo er stehenblieb und sich tief konzentrierte. Laura bekam Angst, ihn so zu sehen, wie sie auch Angst bekommen hatte, als sie von ihm hörte, daß er manchmal Lust habe, diesen Wald zu betreten, der ihr so sehr gefalle, und sich darin zu verirren, ohne ihn je wieder zu verlassen oder ein menschliches Gesicht zu erblicken. »Was erwarten sie von mir, Laura?«
»Alle sagen, daß du sehr intelligent bist, daß du sehr schön schreibst und redest. Vater nennt dich immer eine Verheißung.« »Der Alte ist ein guter Kerl. Aber von ihm kommen nur gute Wünsche. Eines Tages zeige ich dir, was ich schreibe.« »Darauf freue ich mich jetzt schon!«
»Es ist nicht genial. Es ist in Ordnung. Und trifft die Sache.« »Reicht das nicht, Santiago?«
»Nein. Wenn ich wirklich etwas verabscheue, dann, ein Herdentier zu sein. Das ist unser Vater, entschuldige, daß ich das sage, ein gutes Schaf in der berufstätigen Herde. Man darf nicht zu einer Künstlerherde gehören, einer mehr in der Kunst, in der Literatur. Das würde mich umbringen. Laura, lieber bin ich ein Niemand als mittelmäßig.«
»Das bist du nicht, Santiago. Sag nicht solche Sachen, du bist der Beste, das schwöre ich dir.«
»Und du die Hübscheste, das sage ich dir.« »Ach, Santiago, versuch nicht immer, der Beste unter den Ersten zu sein. Warum bist du nicht lieber der Beste von den Zweiten?«
Er zwickte sie in die Wange, und sie lachten wieder. Damit gingen sie schweigend nach Hause zurück, und die Eltern wagten nicht, etwas zu sagen, denn, Fernando, es wäre Bosheit, dort eine Sünde zu sehen, wo es keine gibt, wie es Pfarrer Elzevir in Catemaco getan hat, der den Leuten irgendwelche Schuldgefühle einredete und sie damit zugrunde richtete, denn, Leticia, ich sehe jetzt, daß ich nichts von meinem Sohn weiß, für mich ist dieser Junge ein Geheimnis, aber du kennst Laura wirklich und vertraust ihr, nicht wahr?
Am folgenden Sonnabend nahm Santiago seine Schwester wieder zur Mole mit und sagte zu ihr: »Sieh dir die Gleise an, genau hier kamen die Güterwagen an, beladen mit Leichen, die Arbeiter von Rio Blanco, die sie auf Befehl von Don Porfirio ermordet haben, weil sie gestreikt und mutig durchgehalten hatten, hierher hat man sie gebracht und ins Meer geworfen. Der Diktator hält sich nur noch mit Blut an der Macht, die aufständischen Yaquis hat er in Ketten gelegt und in Sonora von einem Schiff ins Meer gestürzt, die Bergleute in Cananea hat er erschießen lassen, und an einem Ort, der Valle Nacional heißt, hält er Hunderte Arbeiter versklavt. In der Festung Ulüa sind die Liberalen eingesperrt, die Anhänger Maderos und der Brüder Flores Magön, und die Anarchosyndikalisten waren die spanischen Verwandten meiner kanarischen Mutter Elisa Obregõn, die Revolutionäre. Laura, die Revolutionäre, Leute, die etwas sehr Einfaches für Mexiko verlangen, Demokratie, Wahlen, Land, Bildung, Arbeit, keine Wiederwahl des Präsidenten. Don Porfirio ist seit dreißig Jahren an der Macht.«
Er sah sie an. »Entschuldige. Nicht einmal einem zwölfjährigen Mädchen erspare ich meine Vorträge.«
Die Revolutionäre. Dieses Wort hallte in jener Nacht in Laura Dïaz' Kopf und der nächsten und länger, sie hatte es nie zuvor gehört. Als sie zusammen mit ihrer Mutter zu einem Besuch auf die Kaffeeplantage kam, fragte sie den Großvater: »Was ist ein Revolutionär?«
Der Blick Felipe Kelsens, des alten Sozialisten, trübte sich kurz. »Das ist eine Illusion, die man mit dreißig verlieren muß.«
»Santiago ist gerade erst zwanzig.«
»Ganz recht. Sag deinem Bruder, er soll sich beeilen.«
Im Patio des Landhauses spielte Don Felipe Schach mit einem Engländer, der schmutzige weiße Handschuhe trug. Durch die Frage seiner Enkelin verlor der alte Deutsche einen Läufer und mußte eine Rochade hinnehmen. Don
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