Die Jahre mit Laura Diaz
ja, was ich mache.«
»Also, ich sehe dich nicht oft, Santiago. Ständig bist du verschwunden.«
Der Junge lachte, hängte sich den Stock an den Unterarm und zerzauste das Haar seiner kleinen Schwester, die seine herablassende Haltung wütend machte.
»Ich bin schon zwölf. Fast.«
»Ach, wärest du nur fünfzehn, dann könnte ich dich entführen«, lachte Santiago.
Von seinem Bürofenster aus sah Don Fernando seinen eleganten, schlanken Sohn vorbeigehen. Er fürchtete die Vorwürfe seiner Frau, nicht so sehr wegen der zwölfjährigen Trennung und Wartezeit, wegen des gemeinsamen Lebens von Vater und Sohn, während Mutter und Tochter ausgeschlossen blieben; nein, das hatten sie schließlich beide einvernehmlich beschlossen, sie hatten die Trennung vereinbart und als Grundlage bleibender, sicherer Werte verstanden, die dem gemeinsamen Leben, im richtigen Augenblick, die gebührende Stabilität verleihen würden.
Nein, Don Fernando war im Gegenteil davon überzeugt, daß die Prüfung, der sie sich unterworfen hatten, nicht nur nichts Außergewöhnliches war in einer Zeit, in der Verlobungen ewig dauerten, vielmehr würde sie ihrer Ehe in der Rückschau sogar so etwas wie eine Aureole geben (nennen wir es nicht so sehr Prüfung oder Opfer, sondern Voraussicht, Einsatz, lediglich aufgeschobenes Glück).
Seine Furcht gründete in etwas anderem. In Santiago selbst. Santiago war der Beweis, daß auch der ganze Erziehungswille eines Vaters nicht ausreicht, damit sich der Sohn nach seinem Vorbild richtet. Wenn ich ihm volle Freiheit gelassen hätte, hätte er sich dann eher angepaßt? fragte sich Fernando. Habe ich ihn zu etwas anderem gemacht, indem ich ihm meine eigenen Werte zu vermitteln versuchte?
Die Antwort blieb am Rand jenes Mysteriums stecken, das Fernando Dïaz nicht zu bewältigen vermochte: die Persönlichkeit anderer Menschen. Wer war sein Sohn, was wollte, tat, dachte er? Der Vater hatte keine Antworten. Als Santiago ihn nach dem Gymnasium um ein freies Jahr bat, bevor er sich für ein Studium entscheiden wollte, bewilligte Fernando es ihm gern. Alles schien in der geordneten Gedankenwelt des Buchhalters und Direktors zusammenzupassen: der Schulabschluß seines Sohns und die Ankunft seiner zweiten Frau mit seinem zweiten Kind. Die durch das Sabbatjahr bedingte Abwesenheit Santiagos (sagte sich Fernando mit einem gewissen Schamgefühl) würde es ermöglichen, daß die neue Familie ohne Zwischenfälle zusammenwuchs. »Wo willst du das Jahr verbringen?«
»Hier in Veracruz, Papa. Ist das nicht ein Witz? Veracruz kenne ich am wenigsten, diesen Hafen, meine Heimatstadt. Was hältst du davon?«
Seit seiner frühesten Jugend hatte er so fleißig studiert, so eifrig gelesen und so vortrefflich geschrieben. Er hatte in Jugendzeitschriften Gedichte, Literatur- und Kunstkritiken veröffentlicht. Der Lyriker Salvador Dïaz Mirön, der ihn unterrichtete, rühmte ihn als verheißungsvollen jungen Autor. Wer hat mich sicher sein lassen, sagte sich Fernando Dïaz, daß dies alles Beständigkeit erwarten ließ, vielleicht mit einer kleinen Unterbrechung, aber immerhin Beständigkeit? Führte Ordnung, wenn schon nicht zur Rebellion, so doch zu einem verhängnisvollen Ausscheren aus ihr? Als ihn sein Sohn nach dem Abitur um das freie Jahr bat, stellte er sich vor, daß Santiago es mit Reisen verbringen würde – Fernando hatte das erforderliche Geld gespart –, um nach seiner Rückkehr, wenn er den Wissensdrang eines jungen Mannes befriedigt hatte, seine literarische Laufbahn und sein Studium wiederaufzunehmen und eine Familie zu gründen. Wie in den englischen Romanen hätte er seine Grand Tour unternommen.
»Ich bleibe hier, Papa, wenn es dir nichts ausmacht.«
»Überhaupt nichts, Junge, hier ist schließlich dein Zuhause. Das hätte gerade noch gefehlt.«
Er hatte nichts zu befürchten. Fernando Dïaz' Privatleben war vorbildlich und makellos. Jeder wußte, daß seine erste Frau Elisa Obregõn, die von kanarischen Einwanderern abstammte, bei der Geburt Santiagos gestorben war und daß der Dichter und nunmehrige Abiturient in seinen ersten sieben Lebensjahren beinahe ganz von der Barmherzigkeit eines Jesuitenpaters aus der Stadt Orizaba abgehangen hatte, während sein Vater Don Fernando wieder heiratete und seine neue Familie fern in Catemaco wohnen ließ, dann aber Santiago nach Veracruz mitnahm und dort gemeinsam mit ihm lebte.
Als der rechtschaffene, anständige, nicht unbedingt einfallsreiche Mann der
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