Die Jahre mit Laura Diaz
wirklich etwas zu sagen. Wegen dir wollte ich stumm bleiben, jede Nacht habe ich mich schlafen gelegt und geträumt, wem, wenn nicht Laura kann ich das alles erzählen? Und im Traum habe ich beschlossen, für dich zu schreiben, mein liebes kleines Mädchen, selbst wenn du es nicht erfahren solltest und wir uns nicht wiedersähen, alles war für dich, und du würdest es trotzdem wissen, würdest meine Worte empfangen und wissen, daß sie dir gehören, würdest meine einzige Leserin, für dich ginge kein einziges meiner Worte verloren. Nun, da ich im ewigen Meer versinke, stoße ich die wenige Luft aus, die mir in der Lunge verblieben ist, ich schenke dir ein paar Bläschen, Liebste, ich nehme von mir selbst Abschied und leide unerträglich, weil ich nicht weiß, mit wem ich von nun an sprechen werde, ich weiß nicht…
Laura erinnerte sich, daß sich ihr Bruder für immer im Wald verlieren, zu Wald werden wollte. Nun wollte sie gemeinsam mit ihm Teil des Meeres werden, und sie begann damit, ihm von dem Wasser zu erzählen, an dem sie aufgewachsen war: Wie seltsam, Santiago, daß ich an einem See aufgewachsen bin und ihn nie wirklich gesehen habe. Es stimmt, es ist ein sehr großer See, beinahe ein kleines Meer, aber ich erinnere mich nur ganz verschwommen an ihn; dort badeten die Tanten, bevor Pfarrer Elzevir kam, dort legten die Fischer an, ruhten die Ruder, aber daß ich den See gesehen hätte, Santiago, wie du das Meer sehen konntest, nein, ich muß mir den Ort, an dem ich aufgewachsen bin, neu vorstellen, lieber Bruder, du wirst mich zwingen, den See und alles übrige vor mir zu sehen, das weiß ich jetzt, in dieser Minute, fortan werde ich nicht mehr darauf warten, daß die Dinge geschehen, werde sie nicht geschehen lassen, ohne mich um sie zu kümmern, du wirst mich zwingen, mir das Leben vorzustellen, das du nicht mehr gelebt hast, und ich schwöre dir, daß du es an meiner Seite leben wirst, in meinem Kopf, in meinen Geschichten, meinen Traumbildern, ich lasse dich nicht aus meinem Leben, Santiago, du bist das Wichtigste in ihm, ich bin dir treu und sehe dich in meinen Gedanken, lebe in deinem Namen, tue das, was du nicht getan hast, ich weiß zwar noch nicht, wie, mein schöner und junger und toter Santiago, dir gegenüber bin ich aufrichtig, aber ich schwöre dir, daß ich es tun werde.
Das war das letzte, was sie dachte, als sie sich von dem Toten abwandte, den die Wellen begraben hatten, und zu dem Haus an den Arkaden zurückkehrte, trotz ihrer Grübeleien entschlossen, wieder ein Mädchen zu sein, ganz ein Mädchen zu werden, die verfrühte Reife abzulegen, die ihr Santiago für kurze Zeit gegeben hatte. Sie bat darum, die durchlöcherte Brille behalten zu dürfen, und stellte sich vor, wie er auf die Salve wartete und die Brille in die Hemdtasche steckte.
Am folgenden Tag fegte der kleine Schwarze die Flure, als wäre nichts geschehen, und sang wie immer:
»Beim Tanzen faßt man die Kleine um die Taille geschwind, das erlaubt sie bestimmt…«
IV. San Cayetano:
»Du glaubst, du hast Santiago gut gekannt? Du glaubst, dein Bruder hat alles nur dir gegeben? Wie wenig du über einen so komplizierten Menschen weißt. Dir hat er nur einen Teil gegeben. Er hat dir gegeben, was von seiner Kinderseele übrig war. Einen anderen Teil hat er uns allen, seiner Familie, gegeben, einen weiteren seiner Dichtung, wieder einen anderen der Politik. Und die Leidenschaft, die Liebesleidenschaft, wer hat die bekommen?«
Dona Leticia wollte Ruhe haben, um den Saum des Tanzkleids rechtzeitig fertignähen zu können. »Beweg dich nicht, Mädchen.« »Das kommt, weil ich so nervös bin, Mama.« »Dafür gibt es keinen Grund, ein Ball mit Abendkleidern ist nichts Weltbewegendes.«
»Für mich ja! Es ist das erste Mal, Mutti.« »Du gewöhnst dich schon daran.« »Wie schade.« Laura lächelte.
»Sei still. Laß mich fertig werden. Ist das ein Mädchen!« Als Laura das modische blaßgelbe Ballkleid schließlich anprobierte, lief sie zum Spiegel, sah aber nicht das Kleid an, das ihre Mutter, die im Nähen ebenso geschickt wie auch sonst im Hause war, nach einem Modell aus der letzten Nummer von »La Vie Parisienne« geschneidert hatte, einer Zeitschrift, die wegen des Kriegs in Europa und der Entfernung zwischen Xalapa und dem Hafen zwar mit Verspätung, dennoch aber regelmäßig zu ihnen gelangte. Paris hatte die komplizierten, unbequemen Roben des neunzehnten Jahrhunderts mit ihren Resten von Krinolinen,
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