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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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Felipe sagte nichts weiter. Der Engländer hingegen hakte nach:
    »Noch eine Revolution? Wozu? Es sind doch schon alle tot.«
    »Dann wünschen Sie doch auch gleich, Sir Richard, daß es keine weiteren Kriege gibt, weil dann nur noch mehr Leute umkommen.« Don Felipe wollte Lauras Aufmerksamkeit auf den Engländer mit den Handschuhen lenken und diesen von seinem Spiel abbringen.
    »Sie als Deutscher und ich als Brite«, entgegnete der, »wozu erzähle ich das bloß alles… Feindliche Brüder!«
    Während er protestierte, er sei kein Deutscher mehr, sondern Mexikaner, wurde Don Felipes König bedroht, und der Engländer rief. »Checkmate.«
    Doch erst vier Jahre später redeten Don Felipe und Don Ricardo nicht mehr miteinander, und weil beiden damit der Schachpartner fehlte, starben sie vor Langeweile und Trübsinn. Die Kanonen dröhnten in der Schlacht von Ypern, in den Schützengräben wurden junge Engländer und Deutsche abgeschlachtet, und erst jetzt verriet Großvater Felipe seinen Töchtern und seiner Enkelin ein Geheimnis.
    »Was für eine Geschichte. Er hat diese weißen Handschuhe getragen, weil er sich die Fingerkuppen abgeschnitten hatte, und zwar selbst, um seine Schuld zu büßen. In Indien schnitten die Engländer den Baumwollwebern die Fingerkuppen ab, um die Konkurrenz mit den Textilfabriken in Manchester zu verhindern. Es gibt keine grausameren Kerle als die Engländer.«
    »Das perfide Albion«, sagte, um nichts auszulassen, Tante Virginia. »Perfidious Albion.«
    »Und die Deutschen, Großvater?«
    »Nun ja, Mädchen, es gibt keine größeren Rohlinge als die Europäer. Das wirst du noch sehen. Allesamt.« »Über alles«, trällerte Virginia.
    Sie sollte nichts sehen. Nur die Leiche ihres Bruders Santiago Dîaz, der im November 1910 standrechtlich erschossen wurde, als Verschwörer gegen die Bundesregierung und Komplize der Veracruzaner Umstürzler, der Liberalen, Gewerkschafter und Maderisten, wie etwa der Geschwister Carmen und Aquiles Serdân, die im selben Monat in Puebla erschossen wurden.
    Als Don Fernando Dîaz bei seinem toten, von Kugeln durchsiebten Sohn im Saal über der Bank wachte, wäre es ihm nicht eingefallen, daß die Ruhe des weißgekleideten jungen Mannes – die Brust durchbohrt, das Gesicht noch bleicher als gewöhnlich, die Züge jedoch unverändert – ein weiteres Mal durch die Polizei gestört werden sollte.
    »Das hier ist ein öffentliches Gebäude.«
    »Es ist meine Wohnung, Señor. Das Heim eines Toten. Ich verlange, daß man es respektiert.«
    »Für Rebellen hält man die Totenwache auf dem Friedhof. Los, raus hier, alle!«
    »Wer hilft mir?«
    Fernando, Leticia, der Neger Zampayita, die indianischen Dienstmädchen, Laura mit einer Blume, die zwischen ihren knospenden Brüsten steckte, sie alle luden sich den Sarg auf die Schultern.
    »Papa, Mama, er hatte die Mole so gern, und das Meer, er liebte Veracruz, das soll sein Grab sein, bitte«, sagte Laura. Das Mädchen drückte sich an den Rock der Mutter, blickte den Vater und die Hausangestellten flehentlich an, und sie hörten auf Laura, als befürchteten sie, daß man Santiago eines Tages wieder ausgraben würde, um ihn noch einmal zu erschießen.
    Langsam verschwand der weiße Körper des Bruders im Meeresgrab. Der Leichnam war am gepolsterten Totenbett festgebunden, der Sargdeckel geöffnet, damit alle sehen konnten, wie Santiago allmählich in jener Nacht ohne Wellen verschwand, immer schöner, trauriger, wehmutsvoller wurde, je tiefer er mit dem offenen Sarg versank, während sich sein Kopf beinahe schon mit Algen umkränzte und zusammen mit allen ungeschriebenen Gedichten von den Haien verschlungen wurde. Der letzte Wille des Verurteilten hatte sein Gesicht geschützt: »Bitte, nicht ins Gesicht.«
    Santiago, der keine andere Nachkommenschaft als das Meer hatte, verlor sich in ihm wie in einem Spiegel, der ihn nicht entstellte, ihn nur nach und nach, wie ein Geheimnis, aus dem Spiegel der Luft entfernte, in den er seine Stunden auf Erden gezeichnet hatte. Santiago trennte sich vom Horizont des Meeres, von der Verheißung der Jugend. Im offenen Wasser treibend, bat er die, die ihn liebten: Laßt mich verschwinden und Teil des Meeres werden. Teil des Waldes werden, wie ich es dir einmal gesagt habe, Laura, konnte ich nicht, aber ich habe dich nur in einem be-logen, meine kleine Schwester: Nicht aus Angst vor der Mittelmäßigkeit wollte ich stumm bleiben, Laura. Ich hatte wirklich etwas zu erzählen, ich hatte

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