Die Jahre mit Laura Diaz
schenken.
Während die Heilige Jungfrau an ihnen vorbeikommt, ziehen die Reiter den Hut ab, doch der Witwer Don Fernando Dïaz aus Veracruz hat mit seinen zweiunddreißig Jahren nur Augen für die hochgewachsene, schlanke, überaus zierliche Señorita Leticia Kelsen (er fragt nach ihrem Namen und erhält diese Antwort). Die Siebzehnjährige ist mit einem weißen, pergamentartigen Stoff bekleidet und barfuß, nicht, weil sie etwa keine Schuhe besäße, sondern weil es (wie sie zu Fernando sagt, als der Witwer ihr den Arm anbietet, damit sie nicht im Schlamm des Ufers ausrutscht) in Tlacotalpan die größte Freude sei, mit nackten Füßen über die grasbedeckten Straßen zu laufen. Ob er eine andere Stadt mit Straßen so voller Gras kenne?
»Nein«, lachte Fernando und zog sich, zum Vergnügen und Erstaunen der Tlacotalpenos, die komplizierten Schnürstiefel und die rot- und weißgestreiften Socken aus, über die sich Señorita Leticia fast totlachte.
»Die sind ja wie die von einem Clown!«
Er errötete und machte sich Vorwürfe, daß er etwas getan hatte, was sich derartig von seinen geordneten und maßvollen Gewohnheiten unterschied. Sie liebte ihn auf der Stelle, weil er sich die Schuhe ausgezogen hatte und so rot wie seine Socken wurde.
»Was noch, was noch?« fragte Laura, die die kleine Geschichte auswendig kannte.
»Das Dorf kann man nicht beschreiben, das muß man sehen«, fügte nun ihr Papa hinzu.
»Wieso, wieso?«
»Es sieht aus wie ein Spielzeugdorf«, erzählte Dona Leticia. »Sämtliche Häuser sind einstöckig, sie gleichen sich alle, aber jedes hat eine andere Farbe.«
»Blau, rosa, grün, rot, orange, weiß, gelb, violett…«, zählte das Mädchen auf.
»Die schönsten Hauswände der Welt«, schloß der Papa und zündete sich eine Havanna an.
»Ein Dorf wie ein Baukasten.«
Nun, da sie die große Wohnung in der Hafenstadt hatten, kamen die Kelsen-Schwestern zu Besuch, und Don Fernando neckte sie: »Wolltet ihr nicht endlich heiraten, wo Leticia, Laura und ich zusammengezogen sind?«
»Wer kümmert sich dann um Maria de la O?«
»Immer habt ihr eine Ausrede«, sagte Don Fernando lachend.
»Das stimmt«. Maria gab ihm recht. »Ich bleibe und kümmere mich um Vater. Hilda und Virginia können fortgehen und heiraten, wann sie wollen.«
»Ich brauche keinen Mann«, rief Virginia, die Schriftstellerin, lachend. »Je suis la belle ténébreuse… Ich habe es nicht nötig, daß man mich bewundert.«
Das Gelächter über diesen albernen Scherz wurde von Hilda, der Pianistin, unterbrochen, sie beendete das Thema mit Worten, die niemand verstand: »Alles liegt im Verborgen und belauert uns.«
Fernando sah Leticia an, Leticia blickte zu Laura hinüber, und das Mädchen äffte die Tante nach, die am weißhäutigsten von allen war, indem es die Hände bewegte, als spielte es Klavier, bis ihm Tante Virginia eine ziemlich üble Kopfnuß gab. Die kleine Laura hielt Wut und Tränen jedoch zurück.
Der Besuch der Tanten bot Anlaß, Mitglieder der Veracruzaner Gesellschaft einzuladen. Bei einer dieser Gelegenheiten, als Tante Maria zu spät hereinkam, geschah es, daß eine Señora zu ihr sagte: »Mädchen, wie gut, daß du kommst. Bitte, fächle mir ein bißchen Luft zu. Und nicht zu faul, du kleine Schwarze, denk daran, wie heiß es ist.«
Alle brachen in Gelächter aus, Maria de la O rührte sich nicht. Laura stand auf, nahm ihre braunhäutige Tante am Arm und führte sie zu einem Sessel.
»Nimm Platz, Tantchen, ich fächle gern zuerst der Señora und dann dir kühle Luft zu, meine Liebe.«
Laura Dïaz glaubte, etwas habe sich für immer in ihrem Leben geändert, als sie eines Nachts von einem dumpfen Stöhnen im Schlafzimmer ihres Bruders Santiago geweckt wurde, das neben ihrem lag. Sie erschrak, und doch schlich sie erst auf Zehenspitzen in den Flur und zur Tür des Jungen, als sie zum zweitenmal hörte, was wie ein qualvoller Erstickungsanfall klang. Ohne anzuklopfen, trat sie ein und erblickte Santiagos schmerzverzerrtes Gesicht zusammen mit einem unglaublichen, einzigartigen Gruß in den Augen des Jungen, einer Geste, die für die Anwesenheit des Mädchens dankte, obwohl seine Worte sie verleugneten: »Liebe Laura, geh zurück in dein Zimmer, und mach keinen Lärm, damit du niemanden weckst.«
Sein Hemd war von der Schulter an zerrissen, und mit der rechten Hand drückte er sich den linken Unterarm. Konnte ihm das Mädchen helfen?
»Nein. Ja. Geh schlafen und erzähle niemandem etwas.
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