Die Jahre mit Laura Diaz
heiratet, Mädchen«, sagte der kranke Felipe Kelsen spöttisch in seinem Bett.
Laura kam es so vor, als hätte sich der Hauseingang in Catemaco verändert, als wäre in ihrer Abwesenheit alles kleiner geworden, aber auch länger und enger. In die Vergangenheit zurückzukehren bedeutete, eine leere, endlose Galerie zu betreten, aus der die gewohnten Dinge und Menschen, die man wiedersehen wollte, verschwunden waren. Als spielten sie mit unserer Erinnerung und auch mit unserer Vorstellungskraft, fordern uns Menschen und Dinge der Vergangenheit heraus, sie in die Gegenwart zu versetzen, immer eingedenk, daß sie eine Vergangenheit und eine Zukunft haben, obgleich die nur eben die der wieder gegenwärtigen Erinnerung sein kann. Wenn es aber nun darum ging, einem Sterbenden beizustehen, was war dann die dem Leben gemäße Zeit? Laura brauchte sehr lange, bis sie zum Schlafzimmer ihres Großvaters kam, als hätte sie bis dorthin das ganze Leben des alten Mannes zu bewältigen, von der deutschen Kindheit, die sie nicht kannte, über die Jugend, die für den Dichter Musset und den Politiker Lassalle schwärmte, bis zur politischen Enttäuschung und der Auswanderung nach Mexiko, der Aufbauarbeit und der Reichtum bringenden Kaffeeplantage in Catemaco, der Liebe zu Côsima, der auf dem Postweg bestellten Braut, dem schrecklichen Mißgeschick mit dem Wegelagerer von Papantla, der Geburt der drei Töchter, der herzlichen Aufnahme Maria de la Os, der Hochzeit Leticias und Fernandos, der Geburt Lauras und einer Zeit, die in der Jugend langsam und ungeduldig verstreicht und die wir im Alter auch nicht mit unserer Geduld aufhalten können, wenn sie zugleich spöttisch und tragisch dahineilt. Deshalb brauchte Laura so lange, bis sie zum Schlafzimmer ihres Großvaters kam. Ans Bett eines Sterbenden zu kommen, setzte voraus, sich mit allen Tagen und jedem einzelnen Ereignis seines Daseins zu beschäftigen, sich zu erinnern, sich vorzustellen und vielleicht zu erfinden, was nie geschehen war, selbst das Unvorstellbare, nur weil es die Gegenwart eines geliebten Menschen verlangte, der alles verkörperte, was er war und nicht war, was ihm möglich war und was doch nie geschehen konnte.
Als Laura Dïaz die mit dicken Adern und alten Sommersprossen bedeckte Hand des Großvaters ergriff und die abgenutzte, durchsichtig gewordene Haut streichelte, kam es ihr wieder einmal so vor, daß sie für andere lebte: Ihr Dasein hatte allein den Sinn, unfertige Schicksale zu vollenden. Wie konnte sie das denken, war die Hand des Todkranken, die sie da streichelte, doch die eines Siebenundsiebzigjährigen, eines Mannes, der sein Leben gelebt hatte?
Santiago war eine unerfüllte Verheißung. Galt das auch für ihren Großvater, trotz seines Alters? Gab es auch nur ein einziges Leben, das sich wirklich vollendet hatte, ein einziges, das keine gescheiterte Verheißung, verborgen gebliebene Möglichkeit war, das nicht noch mehr hätte sein können? Nicht die Vergangenheit stirbt mit jedem von uns, sondern die Zukunft.
Laura sah ihrem Großvater so tief wie möglich in die hellen, träumerischen Augen, die immer noch voller Leben waren, obwohl der drohende Tod sie bereits zucken ließ. Sie fragte ihn. Felipe Kelsen lächelte mühsam.
»Habe ich's dir nicht gesagt, Mädchen? Am Ende haben mich alle Krankheiten zusammen erwischt, und du siehst ja… Aber bevor es zu Ende ist mit mir, möchte ich dir sagen, daß du recht hattest. Ja, es gibt wirklich jene mit Edelsteinen geschmückte Frauengestalt mitten im Wald. Ich habe mich absichtlich geirrt.
Du solltest dich nicht Aberglauben und Zauberei hingeben. Ich habe dir einen Wollbaum gezeigt, damit du lerntest, dich auf die Vernunft und nicht auf Phantasie oder Schwärmerei zu verlassen, die ich in meiner Jugend so teuer bezahlen mußte. Sei bei allem vorsichtig. Der Wollbaum ist mit dolchspitzen Dornen besetzt, erinnerst du dich?«
»Gewiß, Großvater.«
Plötzlich murmelte der Alte, als spürte er, daß ihm keine Zeit für mehr Worte blieb, ohne sich darum zu kümmern, zu wem er sprach oder ob ihm überhaupt jemand zuhörte: »Ich bin ein junger Sozialist. Ich lebe in Darmstadt, und hier will ich sterben. Nahe bei mir muß ich meinen Fluß haben, meine Straßen und Plätze. Ich brauche die gelbe Farbe der Chemiefabriken. Ich muß an etwas glauben. Das ist mein Leben, und ich würde es gegen kein anderes eintauschen.«
»Kein anderes…«, senffarbene Blasen sprudelten ihm aus den Mund, und er blieb für
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