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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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immer offenstehen.
    Als der Tanz zu Ende war, hatte Orlando seine Lippen, sie waren fleischig wie die eines Mädchens, an Lauras Ohr gepreßt.
    »Wir müssen uns trennen. Wir fallen auf. Ich warte auf dich in deinem Haus, in der Dachkammer.«
    Laura fühlte sich von den Festgeräuschen, den neugierigen Blicken der Gäste und dem erstaunlichen Vorschlag Orlandos eingekreist.
    »Aber dort lebt Señorita Aznar.«
    »Nicht mehr. Sie wollte nach Barcelona, um dort zu sterben. Ich habe ihr die Fahrt bezahlt. Die Dachkammer gehört mir.«
    »Aber meine Eltern…«
    »Niemand weiß etwas. Außer dir. Ich werde auf dich warten. Komm, wenn du willst.«
    Und er löste die Lippen von Lauras Ohr.
    »Ich möchte dir geben, was ich Santiago gegeben habe. Enttäusche mich nicht. Ihm hat es gefallen.«
    Als Laura nach dem Begräbnis ihres Großvaters heimkam, klangen ihr Orlandos Worte tagelang schrill in den Ohren: »Glaubst du, du hast Santiago gut gekannt? Glaubst du, dein Bruder hätte alles dir gegeben? Wie wenig du von einem so komplizierten Menschen weißt, er hat dir nur einen Teil seines Daseins geschenkt. Die Leidenschaft, die Liebesleidenschaft, wem hat er die geschenkt?«
    Immerzu blickte sie zur Dachkammer hoch. Nichts hatte sich verändert, von ihr selbst einmal abgesehen. Wobei sie nicht richtig begreifen konnte, worin diese Veränderung bestand. Vielleicht war es auch nur eine Vorahnung, die erst in Erfüllung ging, wenn sie heimlich die Treppe zur Dachkammer hochstieg, sorgfältig darauf achtend, daß niemand – Vater, Mutter, Tante Maria de la O, der Schwarze Zampayita oder die indianischen Dienstmädchen –sie bemerkte. An die Tür würde sie nicht zu klopfen brauchen, weil Orlando sie längst halb aufgemacht hätte. Orlando erwartete sie. Im Mondschein war Orlando schön, sonderbar, zwiespältig. Vielleicht war er bei Tageslicht häßlich, gewöhnlich, verlogen. Lauras Körper verlangte mit aller Kraft nach ihm, seinetwegen, ihretwegen, aber er verlangte auch nach Santiago, denn Orlando zu lieben war eine indirekte, erlaubte Form, ihren Bruder zu lieben. Entsprachen Orlandos Andeutungen der Wahrheit? Und wenn nicht, könnte sie dann Orlando um seiner selbst willen lieben, ohne das Phantom Santiagos? Oder ihn hassen, so sehr wie Santiago? Konnte sie Santiago um Orlandos willen hassen? Sie erschauerte bei dem Gedanken, alles könnte eine üble Komödie sein, eine große Lüge, die der junge Verführer erfunden hatte. Laura hatte die diabolischen Ermahnungen Elzevir Almontes nicht nötig, um jede sexuelle Willfährigkeit oder Leichtfertigkeit zu meiden. Mit sieben hatte es ihr genügt, sich nackt im Spiegel zu betrachten und keines der vom Pfarrer verkündeten Greuel zu entdecken. Warum in Versuchungen geraten, die sie für unsinnig hielt, wenn man sie nicht mit einem geliebten Menschen teilte, wie sie es in einer raschen, radikalen Intuition erfaßte.
    Die Liebe, die sie für ihre Familie, auch für Santiago, empfand, war heiter, herzlich und keusch. Nun erregte ein Mann sie zum erstenmal auf andere Weise. Gab es diesen Mann wirklich, oder war er eine Lüge? Würde er Lauras Verlangen befriedigen, oder setzte sie sich der Gefahr aus, ihre ersten sexuellen Erfahrungen mit jemandem zu machen, der es nicht wert war, der nicht für sie bestimmt war, der nichts weiter war als ein Phantom, ein Echo ihres Bruders, schön, attraktiv, verlockend, lauernd, teuflisch, verfügbar, bequem, ein Spieler, der sie in ihrem eigenen Haus, unter dem Dach ihrer Eltern, erwartete?
    Vielleicht hatte ihr der Schwarze Zampayita ungewollt die Lösung gezeigt, als er die drei – Laura, Elizabeth und Señora Garcia-Dupont – in der Ballnacht nach Xalapa zurückfuhr.
    »Meine Gnädigsten, haben Sie die Christpalme am Eingang des Käfigs gesehn?« fragte der Schwarze.
    »Welcher Käfig?« fragte Señora Garcia-Dupont. »Das ist die eleganteste Hazienda der ganzen Gegend, du dummer Kerl. Der Tanz des Jahres.«
    »Die besten Tänze gibt's auf der Straße, Dona, nichts für ungut.«
    »Wenn du meinst«, seufzte die Señora.
    »Hast du dich draußen nicht erkältet, Zampayita?« fragte Laura fürsorglich.
    »Nein, Fräulein. Ich hab mir lange die Christpalme angesehn. Und mich an die Geschichte vom heiligen Philipp von Jesus erinnert. Der war ein eingebildeter und ungezogener Tunee wie ein paar von denen, die ich heute nacht hab rauskommen sehn. Er lebte in einem Haus, wo's 'ne verdorrte Christpalme gab. Und seine Amme hat zu ihm gesagt: ›An

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