Die Jahre mit Laura Diaz
daran, hochzublicken und in die Augen dieses Menschen zu sehen.
»Glaubst du, du hast Santiago gut gekannt?« sagte die eigentlich tiefe Stimme, die jedoch absichtlich weit höher ansetzte; offenkundig waren es die Stimmbänder eines Baritons, die die gedämpften Worte hervorbrachten. Warum sträubte sich Laura, ihm ins Gesicht zu blicken? Er hob ihr Kinn an und sagte: »Gehen wir rechts auf die Terrasse, da sind wir allein.«
Er nahm sie am Arm, und sie, die Hände um den Teller gelegt, spürte neben sich seine schlanke, gutgekleidete, leicht nach englischem Lavendel duftende Männergestalt, die sie beharrlich und mit regelmäßigen Schritten zum abgelegensten Teil der Terrasse führte, links vom Pavillon der Musiker, die dort die Futterale ihrer Instrumente abgelegt hatten. Er half ihr, die Hindernisse zu umgehen, doch ungeschickt ließ sie den Teller fallen, der auf dem Marmorfußboden zerbrach, Galantine und Roastbeef verstreute.
»Ich hole einen neuen«, sagte der unbekannte Galan mit plötzlich tiefer Stimme.
»Nein, das macht nichts. Ich habe keinen Hunger mehr.«
»Wie du möchtest.«
Es gab wenig Licht. Laura erblickte zuerst ein Profil, das sich im Gegenlicht abzeichnete, eine gerade Nase ohne jeden Höcker, die Oberlippe trat leicht hinter der Unterlippe zurück, das Kinn ragte wie bei jenen habsburgischen Monarchen hervor, die sie in ihrem Buch über die Weltgeschichte gesehen hatte.
Der junge Mann ließ Lauras Arm nicht los, und was er ihr gleich als erstes erklärte, erstaunte und erschreckte sie: »Orlando Ximénez. Du kennst mich nicht, aber ich dich. Ganz genau. Santiago hat sehr zärtlich von dir gesprochen. Ich glaube, du warst seine Lieblingsjungfrau.«
Orlando schüttelte sich in lautlosem Gelächter und warf den Kopf nach hinten. Im Mondschein sah Laura einen blonden Lockenkopf und ein sonderbar gelbliches Gesicht mit europäischen Gesichtszügen, aber mit Augen, die entschieden orientalisch waren, wie die Haut, die die Farbe der chinesischen Hafenarbeiter in Veracruz hatte.
»Sie reden, als ob wir uns kennen.«
»Sag du, bitte, sag du zu mir, oder ich fühle mich beleidigt. Oder soll ich vielleicht verschwinden und dich in Ruhe essen lassen?«
»Ich verstehe nicht, Señor… Orlando… Ich weiß nicht, worüber du redest.«
Orlando ergriff Lauras Hand und küßte die nach Seife duftenden Knöchel.
»Ich spreche von Santiago.«
»Du hast ihn gekannt? Ich habe nie einen Freund von ihm getroffen.«
»Et pour cause.« Wieder schüttelte sich Orlando in jenem geräuschlosen Gelächter, das Laura so nervös machte. »Glaubst du, dein Bruder hätte alles dir gegeben, nur dir?«
»Nein, wie soll ich das glauben«, stammelte das Mädchen.
»Selbstverständlich glaubst du das. Jeder, der Santiago gekannt hat, glaubt es. Er gab sich alle Mühe, jeden von uns zu überzeugen, daß wir genau das waren: einzigartig, unersetzlich. C'était son charme. Das war seine Gabe: Ich gehöre nur dir.«
»Ja, er war sehr gut…«
»Laura, Laura, ›gut‹ ist nicht das richtige Wort! Wenn einer ihn ›gut‹ genannt hätte, hätte Santiago ihn zwar nicht geohrfeigt, aber er hätte ihn verachtet; und das war seine grausamste Waffe.«
»Er war nicht grausam, du irrst dich, du willst mich bloß ärgern.«
Laura zeigte, daß sie weggehen wollte. Orlandos energische und behutsame Hand hielt sie zurück, und seine Geste war überraschend auch so etwas wie eine Liebkosung.
»Geh nicht fort.«
»Du ärgerst mich.«
»Das paßt dir nicht. Wirst du dich über mich beschweren?«
»Nein, ich will nur weg.«
»Nun ja, ich hoffe, daß ich dich wenigstens ein bißchen aus der Ruhe gebracht habe.«
»Ich habe meinen Bruder geliebt. Du nicht.«
»Laura, ich habe deinen Bruder weit mehr geliebt als du. Obwohl ich zugeben muß, daß ich dich beneide. Für dich war er ein Engel. Für mich… nun ja, wie gesagt, ich beneide dich. Wie oft hat er zu mir gesagt: ›Schade, daß Laura noch so ein kleines Mädchen ist! Hoffentlich wird sie bald erwachsen. Ich gestehe dir, daß ich sie wie verrückt begehre.‹ Wie verrückt. Über mich hat er das nie gesagt. Mit mir war er strenger. Was hältst du davon, wenn ich ihn so nenne, und nicht ›grausam‹? Santiago, der Strenge und nicht Santiago, der Grausame, oder genauer gesagt, pourquoi pas, Santiago, der Herzensbrecher, der Mann, der wollte, daß ihn alle liebten, Männer und Frauen, Jungen und Mädchen, Arme und Reiche. Und weißt du, warum er geliebt werden wollte?
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