Die Jahre mit Laura Diaz
Familie lindern konnte, wie es ihre Mutter Leticia von ihr verlangte –, sich mit jüngeren Mädchen anzufreunden, deren kindisches Gemüt sich nicht nur durch den Altersunterschied zu Laura, sondern auch durch Lauras größere Lebenserfahrung deutlich zeigte: Sie war die Schwester Santiagos, das Mädchen, das Orlando verführen wollte, die Tochter eines von Krankheit gezeichneten Vaters und einer in ihrem Pflichtgefühl unerschütterlichen Mutter.
Vielleicht um ihre verletzten Gefühle zu betäuben, ließ sich Laura ohne allzu große Überlegungen auf dieses Leben ein, das ihres war und doch nicht war. Es war da und durchaus bequem, und sie würde nicht an unmögliche Dinge denken, an nichts, das sich auch nur ein wenig vom Alltagsleben in Xalapa unterschied. Nichts störte den täglichen Spaziergang in Los Berros, ihrem bevorzugten Garten mit den hohen, silberblättrigen Pappeln und den Eisenbänken, den Springbrunnen mit grünlichem Wasser und den schmutzverkrusteten Balustraden, den seilspringenden Mädchen, den jungen Damen, die in der einen Richtung promenierten, und den Galanen, die aus der anderen Richtung kamen, alle flirteten und starrten einander unverhohlen an oder wichen den Blicken aus, alle waren sie auf diese eine Chance angewiesen, den anderen ein paar Sekunden lang zu sehen, das allerdings so oft, wie es ihre Erregung oder Geduld verlangte.
»Hütet euch vor Herren, die im Parque Juârez einen Stock an die Schulter drücken«, warnten die Mamas ihre Töchter. »Die haben böse Absichten.«
Der Park war der zweite bevorzugte Treffpunkt unter freiem Himmel. Alleen mit Buchen, westindischen Lorbeerbäumen, Araukarien und Jacarandas bildeten ein kühles, duftendes Gewölbe für kleine Vergnügungen, Rollschuhpartien und Volksfeste, und an klaren Tagen genoß man von hier aus den wunderbaren Anblick des Pico de Orizaba, auch Citlaltépetl, »Berg des Sterns«, genannt, des höchsten Vulkans Mexikos. Der Citlaltépetl besaß eine besondere Zauberkraft, er schien von einer Bewegung belebt, die von der Sonnenhöhe und der Jahreszeit abhing: Am klaren Morgen wirkte er nah, die dunstverhangene Mittagssonne rückte ihn in die Ferne, der nachmittägliche Sprühregen verschleierte ihn, und die zweite dem Tag vergönnte Geburt, die Dämmerung, verlieh ihm einen weithin sichtbaren Glorienschein; und nachts wußten alle, daß er der unsichtbare, unverrückbare Stern und Pate des Veracruzaner Firmaments war.
Es regnete ständig. Laura und ihre neuen, ihr so unähnlichen Freundinnen (sie erinnerte sich nicht einmal an ihre Namen) rannten aus dem Park, um sich unterzustellen, liefen im Zickzack unter den Vordächern der Häuser entlang und übersprangen die Bäche, die quer über die Straße flössen. Es war sehr schön, die warmen Sturzbäche auf den Dächern und das Murmeln zu hören. Die kleinen Dinge erwachten zu eigenem Leben, und als die ruhige Nacht anbrach, füllten sich die frischgebadeten Straßen mit dem Duft von Tulpen und Junicuiles. Die jungen Leute kamen zu einem Bummel heraus. Von sieben bis acht war »Fensterstunde«, in der sich die Verehrer den geöffneten Balkontüren näherten, um ihre Freundinnen zu besuchen, und selbst die Ehemänner machten während der »Fensterstunde« ihren Frauen den Hof, als wollten sie ihr Jawort erneuern und die Gefühle wiederbeleben – was in Xalapa normal war, auch wenn es anderswo in der Welt sonderbar gewirkt hätte.
In jenen Jahren, als die Mexikanische Revolution und der europäische Krieg beinahe gleichzeitig ihren Höhepunkt erreichten und schließlich endeten, wurde der Film zur großen Neuheit. Die Revolutionskämpfe flauten ab. Die Schlachten, die nach dem großen Sieg Âlvaro Obregõns über Pancho Villa in Celaya stattfanden, waren nur noch Scharmützel. Villas mächtige Norddivision zerfiel in Straßenräuberbanden, und nach dem Sieg Venustiano Carranzas und des Konstitutionalistischen Heeres sowie nach dem Inkrafttreten der neuen Magna Charta – so wurde die Verfassung von 1917 in der Presse genannt – suchten alle nach Unterstützung, Übereinkünften, Vorteilen und Idealen, in dieser Reihenfolge. Unter den vornehmen Gästen, die sich jeden Nachmittag im Casino von Xalapa trafen, war die neue Verfassung Gegenstand fortwährender Überlegungen, Debatten und Befürchtungen.
»Wenn die Bodenreform genau nach Plan durchgeführt wird, ruinieren sie uns«, sagte der Vater des jungen Tänzers aus Cõrdoba, der nur von Hähnen und Hühnern geredet
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