Die Jahre mit Laura Diaz
Gewerkschaften hatten beschlossen, die mutige Genossin zu ehren, die Geld gespendet und während der Revolution als Kurier für die Roten Bataillone und das Haus des Weltarbeiters gearbeitet hatte, sie hatte sogar verfolgte Gewerkschafter versteckt, gerade hier, im Haus des Bankdirektors.
»Wußtest du das, Mutti'}«
»Nein, Laura. Und du, Schwester?«
»Wie das wohl!«
»Es ist besser, nicht alles zu wissen, stimmt's?«
Keine von den dreien wäre auf die Idee gekommen, daß ein so ehrenhafter Mann wie Don Fernando wissentlich eine Verschwörung unter seinem Dach geduldet hätte, vor allem nach der Erschießung Santiagos am 21. November 1910. Laura kam der Gedanke, daß womöglich Orlando Ximénez die Wahrheit kannte: daß er der Kontaktmann zwischen Dona Armonias Dachkammer und den Anarchosyndikalisten gewesen war. Sie verwarf ihren Verdacht; Orlando, der Dandy, der Luftikus… Oder taugte er vielleicht gerade deshalb für dergleichen? Laura lachte amüsiert. Gerade erst hatte sie ihrem Vater Scarlet Pimpernel von Baroness Orczy vorgelesen, und jetzt stellte sie sich den armen Orlando als einen mexikanischen Pimpernel vor, der nachts ein Dandy und tagsüber Anarchist war… um die Gewerkschafter vor der Erschießung zu retten.
Kein Roman bereitete Laura auf den nächsten Lebensabschnitt vor. Leticia und Maria suchten eifrig nach einer bequemen Wohnung, deren Miete mit der Pension Fernandos vereinbar war. Die Halbschwester erklärte, so, wie die Dinge lägen, müßten Hilda und Virginia die Kaffeeplantage in Catemaco verkaufen und mit dem Geld ein Haus in Xalapa kaufen, damit sie alle zusammenleben und ihre Ausgaben begrenzen könnten.
»Und warum ziehen wir nicht alle wieder nach Catemaco? Schließlich haben wir dort gelebt und waren glücklich«, sagte Leticia, ohne dabei wie ihre grüblerische Mama zu seufzen.
Ihre Frage wurde gegenstandslos, als die ledigen Schwestern Hilda und Virginia in Xalapa erschienen und Bündel und Bücherkisten, Koffer und Schneiderpuppen, Käfige mit Papageien und sogar den Steinway-Flügel mit ins Haus brachten.
Die Leute strömten in der Galle de Lerdo zusammen, um das äußerst merkwürdige Gepäck zu bestaunen. Die Habseligkeiten der Schwestern füllten einen ganzen Maultierkarren. Sie selber waren staubbedeckt und sahen aus, als wären sie einem schon vor Jahren verlorenen Kampf entflohen; sie trugen ihre großen Strohhüte mit Gazeschleiern, die das Gesicht vor Moskitos, Sonne und Straßenstaub schützten, am Kinn festgebunden.
Sie hatten nicht viel zu erzählen. Die Veracruzaner Bauernverbände hatten sich bewaffnet und kurz entschlossen das Gut der Kelsens wie auch die übrigen Haziendas der Gegend besetzt, sie zu landwirtschaftlichen Genossenschaften erklärt und die früheren Herren vertrieben.
»Es gab keine Möglichkeit, euch zu benachrichtigen«, sagte Tante Virginia. »Hier habt ihr uns.«
Sie wußten noch nicht, daß das Haus in Xalapa nach dem Casinoball geräumt werden mußte. Als Leticia damit nicht nur den gelähmten Mann und die unverheiratete Tochter, sondern jetzt auch noch die Schwestern auf dem Hals hatte, brach sie zusammen und weinte hemmungslos. Die enteigneten Schwestern starrten einander bestürzt an. Leticia bat um Verzeihung, trocknete sich die Tränen mit der Schürze und lud die beiden ein, hereinzukommen und es sich bequem zu machen. In der Nacht kam Tante Maria in Lauras Schlafzimmer, trat ans Bett, setzte sich und streichelte ihr den Kopf.
»Verlier nicht den Mut, Mädchen. Sieh dir bloß mich an. Manchmal denkst du bestimmt, daß das Leben schwer für mich war, vor allem, während ich allein mit meiner Mutter lebte. Aber weißt du was? Auf die Welt zu kommen ist eine Freude, selbst wenn du in Trauer und Elend empfangen wurdest, dabei meine ich mehr Trauer und Elend im Inneren als im Äußeren. Du kommst zur Welt, und woher du kommst, wird unwichtig. Geboren zu werden, ist ein Fest, und ich habe mich immer darüber gefreut zu leben, ohne mich das kleinste bißchen darum zu kümmern, woher ich stamme, was vorher war, wie und wo mich nieine Mutter geboren und wie sich mein Vater benommen hat.
Weißt du was? Deine Großmutter Cosima hat alles auf gewogen, aber sogar ohne sie, ohne all das, was ich ihr zu verdanken habe, und so sehr ich sie auch verehre: Ich freue mich über die Welt, und ich weiß, daß ich zur Welt gekommen bin, um das Leben zu genießen, im guten wie im bösen, Mädchen, und das mache ich weiter so, verdammt noch mal. Und
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