Die Jahre mit Laura Diaz
allerschlimmste würde der Tod ihres Vaters sein. Der traurigste wäre ihrer Meinung nach, verloren und vergessen wie die Tanten Hilda und Virginia in einem kleinen Dorf hängenzubleiben, im Vaterhaus, ohne Grund für ihre Seßhaftigkeit und Ehelosigkeit, nachdem Don Felipe Kelsen tot war. Der Großvater war gestorben, Hilda spielte Klavier für nichts und niemanden, und Virginia sammelte Manuskriptblätter mit Gedichten, die nie jemand kennenlernen würde. Besser war es da schon, sich für ein anderes Leben aufzuopfern, wie Tante Maria de la O, die sich unablässig um Fernando Dïaz kümmerte.
»Was würde ich nur ohne dich machen, Maria de la O?« sagte ernst und ohne einen Seufzer die unermüdliche Mutti Leticia.
Laura, die sich früher einmal das Schlafzimmer Santiagos in Veracruz eingeprägt hatte, rief sich ins Gedächtnis, wie die Patios des Hauses in Xalapa aussahen, wie die Flure, die Fußböden aus Marseiller Ziegeln, die Palmen, Farne und Mahagonischränke, wie die Spiegel, die auf Pfosten stehenden Betten, die Krüge mit gefiltertem Wasser und der Toilettentisch, das Waschbecken, der Kleiderschrank, wie die von der Mutter beherrschte, nach Minze und Petersilie duftende Küche.
»Versenk dich nicht in Grübeleien wie deine Großmutter Kelsen«, sagte Leticia, die die Traurigkeit in ihrem Blick nicht mehr zurückzuhalten vermochte. »Geh mit deinen Freundinnen aus. Amüsier dich. Du bist erst zweiundzwanzig.«
»Ich bin schon zweiundzwanzig, Mutti, das willst du doch sagen. In meinem Alter warst du schon fünf Jahre verheiratet, und ich war bereits auf der Welt – und, Mutti, frag bitte gar nicht erst: Nein, mir gefällt kein einziger Junge.«
»Wollen sie nichts mehr von dir wissen? Nach all dem, was passiert ist?«
»Nein, Mutti, ich gehe ihnen aus dem Weg.«
Die Mädchen, mit denen Laura nun zusammenkam, waren jünger als sie und hatten beschlossen, ihre Kindheit zu verlängern, als reagierten sie auf eine Warnung vor unbegreiflichen Veränderungen und erzitterten wie Laub im Spätsommer, allerdings machten sie dabei kokette Zugeständnisse an das Erwachsenenalter, das sie beunruhigte und das keine von ihnen herbeiwünschte. Sie nannten sich »Die Püppchen« und ließen sich auf mutwillige, für Achtzehnjährige längst unpassende Streiche ein. Sie gingen in den Park zum Seilspringen, damit sie rote Wangen bekamen, bevor sie ihre galanten Streifzüge begannen. Sie hielten lange Siestas, bevor sie sich in Los Berros einfanden, um Tennis zu spielen; und während des Karnevals machten sie sich in aller Unschuld über ihre maskierten Freunde lustig.
»Bist du vom Zirkus?«
»Beleidige mich nicht. Ich bin ein Prinz, siehst du das nicht?«
Im Parque Juârez liefen sie Rollschuh, weil sie die Kilos loswerden wollten, die sie durch den Genuß der »Teufel« angesetzt hatten, das waren Torten, innen aus Schokolade und außen aus weißem Mandelteig, der Hochgenuß der Leckermäuler in dieser nach Backen duftenden Stadt. Bereitwillig beteiligten sie sich an den lebenden Bildern, die die Señoritas Ramos am Schuljahresende einstudierten, der einzigen Gelegenheit, bei der man hätte feststellen können, ob es tatsächlich zwei Señoritas gab – die eine war vorn bei den Vorführungen, während sich die andere hinter den Kulissen befand.
»Mir ist etwas Grauenhaftes passiert, Laura. Ich stellte gerade die Heilige Jungfrau dar, als ich plötzlich unbedingt mußte. Mir blieb nur noch, furchtbare Grimassen zu schneiden, damit Señorita Ramos den Vorhang zuzog. Dann bin ich schnell Pipi machen gegangen und anschließend wieder Jungfrau geworden.«
»Zu Hause haben sie meine Vorführungen und Verkleidungen längst satt, Laura. Meine Eltern haben tatsächlich einen Zuschauer engagiert, der mich bewundern soll. Was hältst du davon?«
»Da bist du bestimmt hochzufrieden.«
»Ich habe doch beschlossen, Schauspielerin zu werden.«
Damit stürmten alle auf den Balkon hinaus, weil sie die Kadetten der Vorbereitungsschule sehen wollten, die mit ihren französischen Käppis, Gewehren, Uniformen mit Goldknöpfen und den so engen Hosen vorbeimarschierten.
Die Bank teilte mit, daß sie im September nach dem Casinoball die Wohnung zu räumen hätten. Don Fernando würde eine Pension erhalten, selbstverständlich, aber ein neuer Direktor sollte ins Haus ziehen. Daneben sollte es einen Festakt in der Dachkammer geben, bei dem man eine Gedenktafel für Dona Ar-monîa Aznar enthüllen würde. Die mexikanischen
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