Die Jahre mit Laura Diaz
hatte.
»Das tun sie nicht. Das Land braucht zu essen. Nur Großgrundbesitz ist produktiv«, bekräftigte der Vater des jungen rothaarigen, zudringlichen Tennisspielers.
»Und die Arbeiterrechte?« griff der Gatte jener Dame ein, die sich wehmütig nach den unvergleichlich schneidigen französischen Zuaven zurückgesehnt hatte. »Was sagen Sie zu den Arbeiterrechten, die in der Verfassung wie Banderillas in einem Stierrücken stecken?«
»Das alles kommt mir vor wie Christus mit einer Pistole in jeder Hand, mein Herr.«
»Rote Bataillone, das Haus des Weltarbeiters. Ich versichere Ihnen, Carranza und Obregôn sind Kommunisten und stellen hier bald das gleiche an wie Lenin und Trotzki in Rußland.«
»Das ist alles undurchführbar, Sie werden schon sehen.«
»Eine Million Tote, meine Herren, und wofür das alles?«
»Ich garantiere Ihnen, die meisten sind nicht auf den Schlachtfeldern umgekommen, sondern bei Kneipenschlägereien.«
Das rief allgemeines Gelächter hervor. Als dann im Salon Victoria mehrere von den Brüdern Abitia gedrehte Filme über die Schlachten der Revolution gezeigt wurden, beschwerte sich das kultivierte Publikum. Niemand ging ins Kino, um arme Schlucker mit Sandalen und Flinten zu sehen. Kino, das war der italienische und nur der italienische Film. Gefühl und Schönheit waren das Vorrecht der italienischen Diven und Vamps auf der silbernen Leinwand, die gute Gesellschaft wollte die Dramen Pina Menichellis, Italia Almirante Manzinis und Giovanna Terribili Gonzalez' erleiden und genießen, dieser phantastischen Frauen mit ihren glänzenden Augen, tiefen Augenrändern, beunruhigenden Brauen, elektrisierenden Haarmähnen, unersättlichen Lippen und tragischen Gebärden. Als die ersten amerikanischen Streifen eintrafen, protestierten alle. Warum verbargen die kleinen Schwestern Gish das Gesicht, wenn sie weinten, warum war Mary Pickford als Bettlerin verkleidet? Die Straße genügte, wenn man Armut sehen wollte, eine Welt ohne große Gefühle, das gab es auch zu Hause.
Für Laura und die Provinzgesellschaft waren die eigenen Anwesen und Häuser auch weiter unersetzliche Mittelpunkte des gemeinschaftlichen Lebens. Beinahe reihum »empfing« man in regelmäßigen, wenn auch großen Abständen. Man spielte Lotterie und Siebzehn-und-Vier, scharte sich dabei in großen Kreisen um die Tische zusammen. Man pflegte auch die kulinarischen Traditionen und unterrichtete die heranwachsenden Mädchen im Tanz, trippelte mit ihnen in kleinen Schritten durch die Säle, »das macht man so und hebt dabei den Rock«, und bereitete sie so auf die großen Bälle im Casino vor, auf Kindstaufen, die Geburt des Christkindes zu Weihnachten. Da wurden dann Krippen mit den Heiligen Drei Königen aufgebaut und in der Mitte des Salons das »französische Schiff«, das nach der Christmette aufgemacht wurde und randvoll mit Süßigkeiten gefüllt war. Dann kamen der Karneval und seine Maskenbälle, schließlich die lebenden Bilder am Schuljahr es ende im Gymnasium der Señoritas Ramos: Sie zeigten den die Unabhängigkeit verkündenden Pfarrer Hidalgo oder den Indio Juan Diego, wie ihm die Heilige Jungfrau von Guadalupe erschien. Das Hauptfest aber war an jedem neunzehnten August der Casinoball, auf dem sich die gesamte gute Gesellschaft des Ortes ein Stelldichein gab.
Laura wäre lieber zu Hause geblieben, nicht nur, um bei ihren Eltern zu sein, sondern auch, weil das Mädchen – nachdem die katalanische Anarchistin gestorben war und man die Dachkammer zugesperrt hatte – jedem Winkel des Hauses einen besonderen Wert gab, als wüßte es, daß die Freude, dort zu leben und aufzuwachsen, nicht ewig dauern konnte. Das Haus des Großvaters in Catemaco, die Wohnung mit Blick aufs Meer über der Bank in Veracruz und jetzt das einstöckige Haus in der Xalapaer Galle Lerdo, wie viele Häuser sollte sie in ihrem Leben noch bewohnen? Ihre Vorstellung ließ sie im Stich. Dafür prägte sie sich die bereits bewohnten Häuser ein und das in der Calle Lerdo, Refugien der Erinnerung in einem unbeständigen Leben, das nie wieder so voraussehbar und sicher sein konnte wie während ihrer Kindheit am See. Sie schaffte sich Halt für die Zukunft, für eine Zeit, die sie sich als Zweiundzwanzigjährige nicht vorstellen konnte, obwohl sie sich immer wieder sagte: Was auch geschieht, die Zukunft wird anders sein als diese Gegenwart. Sie wollte nicht daran denken, aus welchen schlimmen Gründen sich das Leben verändern mußte. Der
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