Die Jahre mit Laura Diaz
Venustiano Carranza sei in Tlaxcalantongo ermordet worden.
VI. Mexico-Staat: 1922
In Mexico-Stadt gibt es keine Jahreszeiten. Es gibt lediglich eine Trockenzeit von November bis März und dann die Regenzeit von April bis Oktober. Wenn man die Jahreszeiten bestimmen will, ist man allein auf Wasser und Sonne angewiesen, die in Mexiko wirklich das letzte Wort haben. Das reicht aus. Es war an einem Regenabend, daß sich Laura Dïaz die Gestalt ihres Mannes Juan Francisco Lopez Greene für immer einprägte. Juan Francisco stand ungeschützt mitten auf dem Zõcalo der Stadt und sprach zu einer Menschenmenge, ohne daß er hätte schreien müssen. Seine Stimme war tief und kraftvoll, das Gegenteil seiner Stimme im persönlichen Gespräch, seine Gestalt eine kämpferische Erscheinung: Das glatte, durchnäßte Haar fiel ihm über Nacken, Stirn und Ohren herab, das Wasser lief ihm über die Brauen, von den Augen in den Mund, der Gummimantel bedeckte seinen massigen Körper, dem sie sich nachts als junge Ehefrau mit Angst und Respekt, Besorgnis und Dankbarkeit genähert hatte. Mit zweiundzwanzig Jahren hatte Laura ihre Wahl getroffen.
Sie dachte an die Jungen auf den Provinzbällen zurück, und sie konnte nicht einen vom anderen unterscheiden, den ersten vom zweiten, diesen von jenem. Sie waren austauschbar, sympathisch, elegant.
»Laura, der ist doch ganz häßlich.«
»Aber er sieht niemandem ähnlich, Elizabeth.«
»Er ist dunkelhäutig.«
»Nicht dunkler als meine Tante Maria de la O.«
»Die willst du ja auch nicht heiraten. Wo es in Veracruz so viele weiße Jungen gibt.«
»Er ist ungewöhnlicher, gefährlicher. Ich weiß es auch nicht genau.«
»Deshalb willst du ihn? Du bist verrückt! Und wie gefährlich du selber bist, Laura! Ich beneide dich, und du tust mir leid.«
Als das junge Paar Xalapa hinter sich ließ und in die Hochebene gelangte, vermißte Laura sofort die schöne, wohlgeordnete Provinzhauptstadt, die einzigartigen Nächte, die, wenn sie hereinbrachen, allem neues Leben gaben. Sobald sie an ihr Zuhause dachte, schienen sich sämtliche Mißgeschicke in der umfassenden Harmonie des Lebens aufzulösen, das sie mit ihren Eltern, mit Santiago, den ledigen Tanten und den toten Großeltern gelebt hatte, so wie sie es im Gedächtnis bewahrte.
Sie sprach das Wort »Harmonie« aus und fühlte sich verwirrt, während sie an die heldenhafte katalanische Anarchistin dachte, die auch Juan Francisco in seiner Rede an diesem Regenabend erwähnte, in der er für den Achtstundentag, den Mindestlohn, den bezahlten Mutterschaftsurlaub und den bezahlten Jahresurlaub eintrat, »für alles, was die Revolution versprochen hat«, sagte er mit tiefer und klangvoller Stimme an die auf dem Platz versammelte Menge gewandt, um an diesem Ersten Mai 1922 den Verfassungsartikel 123 zu verteidigen und zu würdigen: Es sei das erste Mal in der Geschichte der Menschheit, daß das Recht auf Arbeit und der Schutz des Arbeiters Verfassungsrang hätten, deshalb sei die Mexikanische Revolution eine wirkliche Revolution und kein Militärputsch, keine Rebellion und kein Straßentumult, wie es sie im übrigen Lateinamerika gebe, das in Mexiko sei etwas anderes, etwas Einzigartiges, hier gehe wieder alles von den Wurzeln aus, im Namen des Volkes und für das Volk, sagte Juan Francisco zu den zweitausend Leuten, die sich zusammengefunden hatten, sagte es zum Regen, zur schnell hereingebrochenen Nacht, zur neuen Regierung, den Nachfolgern des ermordeten Venustiano Carranza, den, wie alle glaubten, das Triumvirat der Rebellen von Agua Prieta umgebracht hatte: Galles, Obregõn und de la Huerta. Zu allen sprach Lopez Greene im Namen der Revolution, und er sprach auch zu Laura Dïaz, seiner jungen Ehefrau, die er gerade erst aus der Provinz mitgebracht hatte, ein schönes, großgewachsenes Mädchen mit eigenartigen Gesichtszügen und einer Adlernase, das gerade wegen seines ungewöhnlichen Aussehens schön war. Er spricht auch zu mir, ich bin Teil seiner Wörter und muß unbedingt auch Teil seiner Rede werden…
Es regnete in der zentralen Hochebene von Mexiko, und sie erinnerte sich daran, wie der Zug hinaufkletterte, von Xalapa bis zum Bahnhof Buenavista in Mexico-Stadt. Ich komme vom Sand zum Stein, aus dem Urwald in die Wüste, von der Arakaurie zum Kaktus. Inmitten nebelverhangener Landschaften und verbrannter Felder ging es zum Hochplateau empor, dann kam man durch eine harte Ebene mit Steinbrüchen und Steinhauern, die den
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