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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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anders.«
    Warum war es nicht nötig, das zu erklären? Weil die Gesellschaft so war und niemand sie ändern würde? Als Laura ihn mit seiner tiefen, kräftigen Stimme reden hörte, im strömenden Regen, auf dem riesigen Platz im Herzen der Stadt, fühlte sie sich durch ihn, mit ihm und für ihn von Worten und Argumenten beseelt, denen sie eine besondere Bedeutung geben wollte, um ihn zu verstehen, um in seinen Geist einzudringen, wie er in ihren Körper eindrang, um seine Gefährtin, seine Genossin zu sein. Brachte diese Revolution nicht auch einen Verhaltenswechsel der mexikanischen Männer gegenüber ihren Frauen mit sich, eröffnete sie nicht auch den Frauen eine neue Zeit, und war die nicht ebenso wichtig wie die der Arbeiter, die Juan Francisco verteidigte?
    Sie hatte keinem anderen Mann gehört. Ihn hatte sie ausgewählt. Ihm wollte sie ganz gehören. Würde sich Juan Francisco mitreißen lassen, würde er sie so vollständig annehmen, wie sie von ihm angenommen werden wollte? Fürchtete er sich nicht, er, der nie von seinen Freundinnen sprach, der öffentlich oder privat nie »meine Liebste« zu ihr sagen wollte, hatte er nicht Angst, daß sie auch in ihn eindrang, sich seiner bemächtigte, sich sein Mysterium aneignete? Gab es einen Menschen hinter der Gestalt, der sie von Versammlung zu Versammlung folgte? Damit hatte er sich gleichmütig einverstanden erklärt; niemals sagte er, bleib zuhause, das ist Männersache, willst du dich langweilen? Ganz im Gegenteil, er freute sich über Lauras Anwesenheit, Lauras Einsatz für die Sache, Lauras Interesse für die Worte des Führers, ihres Mannes, für Juan Franciscos Rede. Denn alles war eine einzige zusammenhängende Rede, um die Werktätigen zu verteidigen, das Streikrecht, den Achtstundentag. Es war eine einzige Rede, die einer einzigen Erinnerung entsprang, der an den Streik der Textilarbeiter von Rio Blanco und der Bergleute von Cananea, der an den liberalen und anarchosyndikalistischen Kampf, ein Gedächtnisstrom ohne Ruhepunkte, ein Fluß aus vollständig miteinander verbundenen Ursachen und Wirkungen, aus dem sich nur die Feuergarben der Rebellion abhoben, die sogar das Wasser, das Kupfer und Silber der Bergwerke entzünden konnten.
    Laura wollte nichts weiter wissen. Die Geburt des ersten Kindes neun Monate nach der Hochzeit unterbrach alles. Daß Santiago Lopez Dïaz ein Junge war, freute seinen Vater so sehr, daß Laura sich fragte, wie er sich verhalten hätte, wenn es ein Mädchen geworden wäre. Laura fiel es nicht schwer, den richtigen Vornamen für ihr Kind zu finden, schließlich hatte sie einen kleinen Mann geboren. Juan Franciscos Freude war eine weitere Hilfe.
    »Wir nennen ihn Santiago wie meinen Bruder.«
    »Dein Bruder ist für die Revolution gestorben. Das ist ein gutes Vorzeichen für den Jungen.«
    »Ich möchte, daß er am Leben bleibt, Juan Francisco, er soll nicht sterben, nicht für die Revolution oder sonst etwas.«
    Das war einer jener Augenblicke, in dem jeder für sich behielt, was er hätte sagen können. Das Schicksal der Menschen geht über den einzelnen hinaus, Laura, wir sind mehr als wir selbst, wir sind das Volk, wir sind die Arbeiterklasse. Du darfst nicht so borniert sein und deinen Bruder in deinem kleinen Herzen einschließen, wie man eine tote Blume zwischen die Seiten eines Buches preßt. Er ist ein neuer Mensch, Juan Francisco, warum erkennst du ihn nicht einfach als das an, als etwas Neues auf der Welt, etwas, das nie zuvor existiert hat und auch nie wieder existieren wird? Darum freue ich mich über unseren Sohn, darum küsse ich ihn, wiege ihn in den Schlaf und gebe ihm die Brust, ich singe für ihn, willkommen, mein Kleiner, du bist einzigartig, du bist unersetzlich, ich schenke dir meine ganze Liebe, denn du bist du, ich weise die Versuchung zurück, von dir wie von einem toten und nun zu neuem Leben erwachten Santiago zu träumen, einem zweiten Santiago, der den unterbrochenen Schicksalsweg meines vergötterten Bruders vollenden wird.
    »Wenn ich meinen Sohn ›Santiago‹ nenne, denke ich an den Heldenmut deines Bruders.«
    »Ich nicht, Juan Francisco. Hoffentlich wird unser Santiago nicht das, was du sagst. Es tut sehr weh, ein Held zu sein.«
    »Ich verstehe dich. Dennoch dachte ich, du hättest in unserem Santiago gern so etwas wie den wiedergeborenen ersten Santiago gesehen.«
    »Entschuldige, wenn ich dir widerspreche, aber da stimme ich nicht mit dir überein.«
    Er sagte nichts weiter. Er stand auf und

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