Die Jahre mit Laura Diaz
trug, wartete sie nach ihrem Besuch noch einen Moment lang einen Wolkenbruch ab, bevor sie sich wieder auf den Weg machte. Sie hatte das Auto an der Galle de la Moneda geparkt, stieg ein und fuhr durch die Allee, die gerade den Namen Avenida Madero erhalten hatte, die frühere Galle de Plateros, und bewunderte die Herrenhäuser der Kolonialzeit aus glühendrotem Tuffstein und hellem Marmor, dann durch die Alameda bis zum Paseo de la Reforma, wo die Architektur ein französisches Aussehen annahm, mit schönen Villen, die regelmäßig angelegte Gärten und hohe Mansarden hatten.
Sie fühlte sich zufrieden, ihr Leben als Ehefrau war angenehm und voller Behaglichkeit, sie hatte zwei hübsche Kinder und einen außergewöhnlichen, manchmal auch schwierigen Mann, der geradlinig und charakterfest war, jemand, der nicht klein beigab, sich aber stets liebevoll zeigte, Laura keine Sorgen machte, mit seiner Arbeit beschäftigt und von ihr ausgefüllt war. Als sie an der Glorieta de Niza jedoch nach links abbog, um zur Avenida de los Insurgentes und zu ihrem Haus in der Avenida Sonora zu gelangen, fühlte sie sich mit einemmal unbehaglich angesichts ihrer Behaglichkeit. Alles war zu ruhig, zu schön, etwas mußte geschehen.
»Du glaubst doch an Ahnungen und Vorgefühle, Tantchen.«
»Ach was, ich glaube an Gefühle, und deine Tanten erzählen mir davon in jedem Brief, Hilda und Virginia und deine Mutter rackern sich für ihre Gäste ab, und dann setzen sie sich hin und schreiben Briefe und werden ganz anders. Ich glaube, sie sind sich gar nicht bewußt, was sie mir da erzählen, und das kränkt mich, sie schreiben, als wäre ich nicht ich, als sprächen sie zu sich selbst, ich bin nur der Vorwand, Hilda kann nicht mehr Klavier spielen wegen ihrer Arthritis, und dann schreibt sie, wie ihr die Musik im Kopf herumspukt, da, nimm und lies, wie gut der liebe Gott ist oder wie böse, ich weiß es nicht, daß er mir erlaubt, mich in meinem Kopf ganz genau an jede einzelne Note von Chopins Nocturnes zu erinnern, aber er läßt mich die Musik nicht außerhalb von meinem Kopf hören, hast du von diesem neumodischen Grammophon erfahren?, Chopin kratzt auf diesen Platten oder wie die heißen, nur in meinem Kopf ist seine Musik kristallklar und traurig, als hinge der reine Klang von der wehmütigen Seelenstimmung ab, hörst du das nicht, Schwester, hörst du mich nicht?, wenn ich wüßte, daß jemand Chopin in seinem Kopf ebenso klar hört wie ich in meinem, wäre ich glücklich, ich würde das, was ich am meisten liebe, mit einem anderen teilen, ganz allein kann ich es nicht genauso genießen, ich möchte meine musikalische Freude mit einem anderen, mit anderen teilen, und das kann ich nicht mehr, mein Schicksal war nicht so, wie ich es gewollt habe, obwohl es vielleicht das ist, was ich mir ungewollt vorgestellt habe, hörst du mich, Schwester?, nichts als ein demütiges Gebet, eine ohnmächtige Bitte wie die Chopins, dem, wie es heißt, sein letztes Nocturne eingefallen ist, als ihn ein Gewitter zwang, eine Kirche zu betreten, verstehst du meine Bitte, Schwester? Virginia dagegen sagt es mir nicht, aber sie findet sich nicht damit ab, daß sie sterben wird, ohne etwas veröffentlicht zu haben, Laura, könnte dein Mann nicht den Minister Vasconcelos bitten, daß er die Gedichte deiner Tante Virginia drucken läßt, hast du gesehen, wie hübsch die Bücher mit den grünen Deckeln sind, die er in der Universität herausgegeben hat, was meinst du?, denn obwohl Virginia mir aus reinem Stolz nie von solchen Dingen erzählt, ist das, was Hilda schreibt, genau das, was Virginia fühlt, nur daß die Dichterin dafür keine Worte hat, lediglich die Pianistin, denn wie Hilda sagt, meine Musik sind meine Worte, und wie ihr Virginia antwortet, meine Worte sind mein Schweigen. Nur deine Mama Leticia beklagt sich nie über etwas, aber sie freut sich auch über nichts.«
Laura fühlte sich unbefriedigt. Sie wollte Juan Francisco bitten, daß er sie arbeiten ließ, wo auch er war, zusammen mit ihm, sie könnte ihm helfen, wenigstens den halben Tag könnten die beiden gemeinsam daran arbeiten, die Werktätigen zu organisieren. Juan Francisco sagte: »In Ordnung, aber begleite mich zuerst ein paar Tage, damit du siehst, ob es dir gefällt.«
Es blieben ganze achtundvierzig Stunden. In der turbulenten Altstadt herrschte emsiges Treiben, Flickschuster, Schmiede, Kleinhändler, Tischler, Töpfer, Invaliden des Revolutionskrieges, alte, männerlose
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