Die Jahre mit Laura Diaz
als Mutter begriff, daß man zu seinen Kindern nur in Träumen und Fabeln reden kann. Die Rede des Vaters hatte das Träumerische verloren. Es war eine schlaflose Rede. Juan Franciscos Worte schliefen nicht. Sie waren hellwach.
»Mama, ich habe Angst. Sieh aus dem Fenster. Die Sonne ist weg. Wohin ist die Sonne gegangen? Ist sie schon tot?« fragte am Abend ihr Sohn Santiago mit einem Blick wie der erste Mensch, und beim Frühstück unterbrach Laura ihren Mann: »Juan Francisco, rede nicht zu mir, als wäre ich ein Publikum von tausend Leuten. Ich bin ein einziger Mensch. Laura. Deine Frau.«
»Du bewunderst mich nicht mehr wie früher. Früher hast du es getan.«
Sie wollte ihn lieben, das wollte sie wirklich. Was war los mit ihr? Es geschah etwas, das sie nicht kannte und nicht verstand. Was?
»Wer versteht die Frauen? Lange Haare, kurzer Verstand.«
Sie wollte keine Zeit damit vergeuden, ihm zu erzählen, was die Kinder sofort verstanden, wenn sie eine Geschichte erzählten oder eine Frage stellten: unsere Worte erwachsen aus Phantasie und Freude, sie sind nicht für ein Publikum von tausend Leuten oder für einen mit Fahnen überschwemmten Platz bestimmt, sie sind für dich und mich. Zu wem redest du, Juan Francisco? Sie sah ihn ständig auf einer Tribüne, und die Tribüne war der Thron, auf den sie selbst ihn seit ihrer Heirat gehoben hatte, niemand hatte sich mehr darum bemüht als sie, nicht die Revolution oder die Arbeiterklasse, die Gewerkschaften oder die Regierung, sie war die Vestalin jenes Tempels, der Juan Francisco Lopez Greene hieß, und ihr Wunsch war gewesen, daß ihr Mann der Verehrung durch seine Gattin würdig war. Doch ein Tempel ist die Stätte sich wiederholender Zeremonien. Und etwas, das sich wiederholt, erregt Überdruß, solange es nicht vom Glauben gestärkt wird.
Laura verlor zwar nicht den Glauben an Juan Francisco, doch war sie sich selbst gegenüber ehrlich und nahm die Verstimmungen zur Kenntnis, zu denen es während ihres gemeinsamen Lebens kam. Welches Paar leidet im Laufe der Zeit nicht unter Verstimmungen? Das war normal nach acht Ehejahren. Anfangs hatten sie einander kaum gekannt, und alles war eine Über raschung. Wie gern hätte sie das frühere Staunen und den Reiz des Neuen zurückgewonnen, statt dessen mußte sie feststellen, daß das Staunen beim zweitenmal zur Gewohnheit und das Neue zur wehmütigen Sehnsucht wurde. War sie daran schuld? Zunächst hatte sie die öffentlich bekannte Persönlichkeit bewundert. Dann hatte sie versucht, in deren Inneres vorzudringen, aber nur entdeckt, daß hinter der öffentlichen Persönlichkeit eine weitere öffentliche Persönlichkeit und dahinter eine dritte steckte. Sie begriff, daß diese öffentliche Persönlichkeit, dieser beeindruckende Redner, der Massenführer, der wirkliche Juan Francisco war, es gab keine Täuschung, man brauchte nicht nach einer anderen zu suchen. Sie mußte sich damit abfinden, mit einem Mann zu leben, der seine Frau und seine Kinder wie ein dankbares Publikum behandelte. Allerdings stand dieser Mann nicht nur auf der Tribüne, sondern schlief auch in ihrem Ehebett, und als seine Füße sie einmal unter dem Bettuch berührten, zog sie ungewollt ihre Beine zurück, die Ellbogen ihres Mannes wurden ihr allmählich widerwärtig, sie betrachtete dieses runzelüberzogene Gelenk zwischen Ober- und Unterarm und dachte ihn sich insgesamt als einen riesigen Ellbogen, eine von Kopf bis Fuß abgelöste Haut.
»Entschuldige. Ich bin müde. Nicht heute nacht.«
»Sollen wir uns ein Dienstmädchen nehmen? Ich hatte gedacht, ihr beide, du und die Tante, kämt gut mit dem Haushalt zurecht?«
»So ist es, Juan Francisco. Dienstmädchen sind nicht nötig. Du hast Maria de la O und mich. Du darfst keine Dienstboten haben. Du dienst der Arbeiterklasse.«
»Wie gut, daß du das verstehst, Laura.«
»Weißt du, Tantchen«, fand sie den Mut, zu Maria de la O zu sagen, »manchmal vermisse ich das Leben in Veracruz, das war lustiger.«
Die Tante stimmte nicht zu, sie sah Laura nur aufmerksam an, und da lachte Laura, um die Sache herunterzuspielen.
»Bleib du hier bei den Kleinen. Ich gehe auf den Markt.«
Das war keine besondere Mühe, im Gegenteil, es unterhielt sie, auf den Markt in der Colonia Roma zu gehen, es unterbrach die Routine des Haushalts, die eigentlich keine Routine war: Sie liebte ihre Tante, schwärmte für ihre Kinder, es entzückte sie, mit anzusehen, wie sie heranwuchsen. Der Markt war ein Urwald im
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