Die Jahre mit Laura Diaz
steht uns bevor. Dummenfang. Gequatsche.«
»Genossen!« Juan Francisco beendete die Diskussion. »Wichtig sind für uns ganz konkrete Dinge, der Streik, die Löhne, der Achtstundentag und dann neue Kampfziele, die wir erreichen müssen, bezahlten Jahresurlaub, bezahlten Mutterschaftsurlaub, eine Sozialversicherung. Das müssen wir durchsetzen. Verliert das nicht aus den Augen, Genossen. Verirrt euch nicht im Labyrinth der Politik.«
Laura hörte mit dem Stricken auf, sie schloß die Augen und versuchte, sich ihren Mann im Eßzimmer nebenan vorzustellen, wie er aufstand und die Diskussion abschloß, indem er die Wahrheit aussprach, eine intelligente, mögliche Wahrheit: Man mußte mit Obregõn zusammenarbeiten, mit der CROM und ihrem nationalen Führer Luis Napoleon Morones. Draußen regnete es stärker, und Laura spitzte die Ohren. Juan Franciscos Kollegen benutzten die kupfernen Spucknäpfe, die in einem gut eingerichteten Haushalt, an öffentlichen Plätzen und vor allem in Sälen, in denen Männer zusammentrafen, unentbehrlich waren. Warum spucken wir Frauen eigentlich nicht?
Dann kamen sie aus dem Eßzimmer und verabschiedeten sich wortlos von Laura, und wieder bemühte sie sich vergebens, die Argumente, die sie gehört hatte, den Gesichtern zuzuordnen, den tiefliegenden Augen des einen (Pânfilo?), der Nase des anderen, die schmal war wie der Weg zu den Pforten des Himmelreichs (José Miguel?), dem sonnenhellen Blick eines dritten (Diomsio?), dem tappenden Gang eines vierten (Palomo?), dem Ganzen und den Einzelheiten, dem versteckten Hinken, dem Verlangen, einen geliebten Menschen zu beweinen, dem salzigen Speichel, der über-standenen Erkältung, den vergangenen Stunden, an die man nur zurückdenkt, weil es sie nie gegeben hat, der Jugend, die man mehr als einmal erleben möchte, den mit blutigen Erinnerungen belasteten Blicken, der verpaßten Liebe, der Handvoll Toter, den herbeigesehnten zukünftigen Generationen, der ohnmächtigen Verzweiflung, dem schwärmerischen Leben ohne notwendige Freude, den vorbeiziehenden Erwartungen, den Krümeln an den Hemden, dem weißen Härchen am Revers, den Flecken der zum Frühstück verzehrten Rühreier an den Lippen, dem Drang, zu dem zurückzukehren, was man aufgegeben hat, dem langen Zögern, um die Rückkehr zu vermeiden – das alles sah Laura, als die Genossen ihres Mannes an ihr vorüberzogen.
Keiner lächelte, und das erschreckte sie. Ob Juan Francisco recht hatte? Ob sie es war, die nichts begriff? Sie wollte die Gesichter sprechen lassen, die sich ohne ein Wort verabschiedeten und aus ihrem Haus entfernten, sie fühlte sich beunruhigt und sogar schuldig, weil sie Argumente suchte, wo es vielleicht nur Träume und Wünsche gab.
Präsident Obregõn war ihr sympathisch. Er war verschlagen und intelligent, obwohl er nicht mehr so schneidig aussah wie auf den Schlachtfotos, als er blond, jung und schlank mit beiden Armen im Kampf stand. Nun, da er einarmig und ergraut war, hatte er stark zugenommen, als fehlte es ihm an Bewegung, als ersetzte die Präsidentenschärpe nicht ganz die verlorene Hand. Wenn Laura morgens, vor dem Regen, durch die Parks spazierte und den Kinderwagen vor sich herschob, spürte sie, daß etwas Neues in der Luft lag. Der erste Erziehungsminister der revolutionären Regierung war ein begeisterter und brillanter Philosoph, der die Wände der öffentlichen Gebäude Malern überlassen hatte, damit sie darstellten, was ihnen wichtig war: daß sie den Klerus angriffen, das Bürgertum, die Allerheiligste Dreifaltigkeit oder, nicht ganz so gut, die Regierung selbst, die sie für ihre Arbeit bezahlte. »Das ist die Freiheit!« rief Laura laut. Sie nutzte die Gelegenheit, wenn sich Tantchen um die Kinder kümmerte, um einen Ausflug zur Nationalen Vorbereitungsschule zu unternehmen, wo Orozco malte, und zum Nationalpalast, wo sie Rivera antraf.
Orozco war – genau wie Obregõn – einarmig, außerdem halb blind und trübsinnig. Laura bewunderte ihn, weil er die Schulmauern so bemalte, als wäre er ein anderer, mit kräftiger Hand, den Blick der Sonne zugewandt und ohne mit der Wimper zu zucken. Er malte mit dem, was ihm eigentlich fehlte: mit klarem Blick, war ein anderer Orozco, der in diesem Körper steckte, einer, der ihn leitete und erleuchtete. Er forderte Laura Dïaz heraus: Stell dir vor, was für ein glühender und flüchtiger Geist das sein mag, der den Körper des Malers lenkt und auf den verkrüppelten, halbblinden Künstler mit den
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