Die Jahre mit Laura Diaz
Schlüssel, und ruf mich morgen an.«
Es überraschte sie nicht, daß sie Orlando Ximénez nackt, mit einem um die Taille gebundenen Handtuch, vor sich sah, als sie die Tür des Hotelzimmers aufmachte. Was sie überraschte: Sie wußte sofort, daß ihr ein anderer gefallen konnte; daß sie einem anderen gefiel, das konnte sie voraussehen, ihr Taschenspiegel zeigte ihr nicht nur ein Bild, sondern offenbarte ihr auch zusätzlich einen schönen Schein, ein beredtes Gesicht, das sie anregte –wie gerade in diesem Augenblick –, über sich selbst hinauszugehen, wie Alice in den Spiegel einzutreten, um zu entdecken, daß jeder Spiegel einen anderen Spiegel, jedes ihrer Abbilder ein anderes Bild umfaßte, das geduldig darauf wartete, daß sie die Hand ausstreckte, es berührte und spürte, wie es zur nächsten Schicksalswende entfloh.
Sie betrachtete den nackt auf dem Bett liegenden Orlando und hätte ihn gern gefragt: Wie viele Schicksale haben wir?
Er erwartete sie, und sie stellte sich Männer in unendlicher Vielzahl vor, genau wie sich die Männer eine Vielzahl Frauen vorstellten, wozu sich die Frauen aber nicht öffentlich bekennen durften, nur im verborgensten Inneren: Mir gefällt mehr als ein Mann, mir gefallen viele Männer, weil ich eine Frau bin, nicht weil ich eine Hure wäre.
Als erstes streifte sie ihre Ringe ab, sie wollte mit reinen, geschmeidigen, begierigen Händen dem Körper begegnen, der vom Bett aus versuchte, Lauras Gedanken zu erraten, wobei er die Hand zur Faust ballte und sein Goldring mit dem Monogramm OX sie herausforderte; er warf ihr die für die Liebe verlorenen Jahre, das so lange hinausgezögerte Stelldichein vor, aber jetzt, diesmal ja, und auch sie sagte ja, indem sie ihre Ringe abstreifte, vor allem ihren Ehering, der sie mit Juan Francisco verband, und den Diamantring, den sie von Großmutter Cosima Kelsen geerbt hatte, die vier Finger einbüßte, weil der Protz von Papantla sie ihr mit einem liebestollen Machetenhieb abschnitt. Laura lief zum Bett Orlandos und ließ dabei die Ringe auf den Teppich fallen, so wie ein im Märchenwald verirrtes Rotkäppchen Brotkrumen ausstreut, die die Vögel, alle ganz ausnahmslos Greifvögel, alle schöne Räuber, nach und nach auffressen, und so verwischen sie die Spuren und sagen dem verirrten Mädchen: »Es gibt keine Rückkehr, du kommst in die Höhle des Wolfes…«
IX. Interoceânico:
Laura Dïaz fuhr im gleichen Zug zurück, der sie als junge Ehefrau in umgekehrter Richtung von Xalapa nach Mexico-Stadt gebracht hatte. Diesmal jedoch war es Tag und nicht Nacht. Und sie fuhr allein. Ihre letzte Begleitung, bevor sie den Bahnhof Co-lonia erreichte, war eine Hundemeute, die vor und hinter ihr lief, bedrohlich vor allem durch ihre Ungewohntheit für Laura. Die Stadt war ausgetrocknet, nacheinander füllten sich die Seen und Kanäle – Texcoco, La Viga, La Veronica, die versiegenden Zuflüsse der aztekischen Lagune – zuerst mit Schmutz, dann mit staubiger Erde und schließlich mit Asphalt. Die Stadt im See starb für immer, was sich Laura, die manchmal von einer im Wasser aufragenden Pyramide träumte, mit all ihrer Vorstellungskraft nicht erklären konnte.
Hunde fielen über die Stadt her, wie im Austausch, verirrte, orientierungslose Kreuzfahrer ohne Kreuzzug, die man mit ebensoviel Angst wie Mitleid betrachtete, manchmal waren es vornehme Collies, flinke dänische Doggen oder entartete deutsche Schäferhunde, die sich in einer großen Meute ohne Halsbänder, ohne Richtung, ohne Herren, ohne Rasse vereint hatten. Familien, die Luxushunde hielten, waren mit der Revolution sämtlich aus Mexiko verschwunden, sie ließen die Tiere frei, damit sie davonlaufen, aus Treue sterben oder auch verhungern konnten. In etlichen reichen Häusern der Colonia Roma und am Paseo de la Reforma wurden Leichen von Hunden gefunden, die man an Pfosten festgebunden oder in ihre Hütten gesperrt hatte und die weder fressen noch fliehen konnten. Hunde wie Herren mußten das in sie gesetzte Vertrauen enttäuschen, um zu überleben.
»Die sind miteinander aufgewachsen, ohne daß man ihnen etwas beigebracht hätte, kein Hund weiß, daß er einen Stammbaum hat, Laura, und wenn ihre Herren zurückkommen – und sie kommen schon, beinahe alle aus Paris, ein paar aus New York, eine Menge aus Havanna –, können sie sie nicht mehr zu sich nehmen.«
Das hatte Orlando ihr erklärt. Im Zug bemühte sie sich, das Bild der herrenlosen Hunde zu vergessen, doch es war
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