Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
Vom Netzwerk:
eine Vision, die alle anderen Bilder überlagerte, die sie von ihrem Leben mit Orlando während der letzten achtzehn Monate bewahrte, seit sie im Hotel Régis zum erstenmal miteinander geschlafen hatten und schließlich dort geblieben waren. Orlando bezahlte das Zimmer und die Bedienung, und sie begannen, gemeinsam in der Gesellschaft zu erscheinen, Orlando nannte das »Beobachtungen für meinen Roman«, wenn sich Laura auch manchmal fragte, ob ihr Geliebter wirklich diese oberflächliche Frivolität genoß, die sich der Stadt bemächtigt hatte, als sie nach zwanzigjährigen revolutionären Schrecken zum Frieden zurückgekehrt war, oder ob Orlandos Streifzüge durch die städtischen Milieus zu einem geheimen Plan gehörten, ebenso wie damals, als er Kontaktmann der katalanischen Anarchistin Armonia Aznar gewesen war.
    Sie hatte ihn nie danach gefragt. Sie hatte es nie gewagt. Darin unterschied sich Orlando von Juan Francisco, der alles erzählte, was ihm zustieß, bis er schließlich eine Volksrede daraus machte. Orlando erläuterte nie, was er tat. Laura spürte den Zwang, das Zukünftige zu erkennen, niemals das Vergangene. Sie fragte nicht nach seinem Verhältnis zu der alten Anarchistin in der Dachkammer in Xalapa und auch nicht nach seinem Verhältnis zu ihrem in Veracruz erschossenen Bruder. Wie leicht wäre es Orlando gefallen, mit dem ersten zu prahlen und vom zweiten zu profitieren. Eine Aureole des Heldentums umgab alle, die mit Armonia Aznar und Santiago Dïaz zusammengekommen waren. Warum sonnte sich Orlando nicht in diesem Glanz?
    Wenn Laura ihn erschöpft schlafen sah, schutzlos den Blicken der wachen Frau ausgeliefert, stellte sie sich alle möglichen Dinge vor. Seine schamhafte Scheu vor der Öffentlichkeit – er würde sie Zurückhaltung oder Anstand nennen, wenn er auch zahlreiche satirische Pfeile auf sich selbst abschoß und die Gesellschaft mit giftigen Epigrammen überschüttete. Sie versuchte hinter die Dinge zu sehen, hinter die Verschämtheit dieses Mannes, der in seinem Sexualleben vollkommen schamlos war. Vielleicht sah er sich verpflichtet, ein Geheimnis zu wahren, um eine politische Aufgabe zu unterstützen – welche? Die Anarchie, die Gewerkschaftsbewegung, das Verbot einer Wiederwahl des Präsidenten, die Revolution oder vielmehr die REVOLUTION in Großbuchstaben, die Tatsache, daß sie in Mexiko alles auf den Kopf gestellt hatte, das gewaltige Wandgemälde, das ihrer aller Leben war, ein Wandbild wie die, die Diego Rivera malte, Kavalkaden und Morde, Schlägereien und Schlachten, unendlich viele Heldentaten und Niederträchtigkeiten in vergleichbarer Zahl, Fluchten und Annäherungen, Umarmungen und Dolchstöße?
    Sie erinnerte sich, wie sie als junge Ehefrau die neue Kunst der Wandmalerei entdeckt und Diego besucht hatte, der im Nationalpalast malte.
    »Er hat mich hinausgeworfen, Orlando, weil ich schwarzgekleidet war, aus Trauer um meinen Vater.« »Hast du kein Heimweh nach Xalapa?« »Ich habe dich, wonach soll ich mich also sehnen?« »Nach deinen Kindern. Deiner Mutter.« »Und den alten Tanten.« Laura lächelte, weil Orlando in ungewohnt feierlichem Ton zu ihr sprach. »Zu denken, daß Diego Rivera abergläubisch ist!«
    »Ja, die alten Tanten, Laura…«
    War er ein geheimnisvoller Held? Ein diskreter Freund? Und außerdem ein sentimentales Kind? Alles, was sich Laura morgens über den »wahren« Orlando vorstellen konnte, machte der »wahre« Orlando nachts zunichte. Der reinherzige, liebevolle Engel des Morgens wurde zu einem angriffslustigen Teufel mit giftspritzender Zunge und zynischem Blick, kaum daß die Sonne unterging. Dennoch, sie, Laura, hatte er nie schlecht behandelt. Laura spürte im Gesicht immer noch den Schlag Juan Franciscos, als er sie in der Nacht damals aus dem Taxi zerren wollte. Das würde sie nie vergessen. Nie verzeihen. Ein Mann kann nicht ermessen, was ein Schlag ins Gesicht für eine Frau bedeutet, diese unbestrafte Mißhandlung, diese Beleidigung durch den Stärkeren, die Feigheit, die Beschimpfung der Schönheit, die jede Frau in ihrem Gesicht bewahrt und zeigt. Orlando machte sie nie zum Opfer eines ironischen oder gar grausamen Spaßes, allerdings zwang er sie nachts, die Verleugnung des tagsüber diskreten, gefühlvollen, liebeserfahrenen Orlando mitzuerleben, der den Körper der Frau so behutsam behandelte, als wäre er sein eigener, Orlando, der dem weiblichen, mit ihm vereinten Körper gleichzeitig Leidenschaft und Respekt zollte.
    »Mach

Weitere Kostenlose Bücher