Die Joghurt-Luege
Fachleute. Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), vormals BgVV, wollte zwar die Anwendung für Käse dulden, nicht jedoch zur Oberflächenbehandlung von Wursthüllen. Aus mikrobiologischer und technologischer Sicht besteht nach Ansicht der deutschen Behörde keine Notwendigkeit, die Substanz zu verwenden.
In Deutschland gibt es eine ganze Reihe von Käsesorten, die mit Natamycin behandelt werden. Auf den Verpackungen lässt sich die Substanz meist aus der Zutatenliste herauslesen – bei offener Ware ist sie allerdings nicht kennzeichnungspflichtig. Der Konsument kann daher nicht wissen, ob er mit dem Käse das antibiotisch wirkende Mittel schluckt oder nicht. Die Aufschrift »Rinde nicht zum Verzehr geeignet« warnt ihn lediglich vor dem wachsartigen, ungenießbaren Überzug, hält ihn aber nicht dazu an, die Rinde samt fünf Millimetern Käse abzuschneiden und wegzuwerfen, wie es eigentlich notwendig wäre, damit das Natamycin nicht in seinen Körper gelangt. Außerdem gibt es Käsesorten, die überhaupt keine sichtbare Rinde aufweisen, deren äußere Schicht aber trotzdem das Mittel enthält. Zwar würde der unwissende Esser die festgelegte Höchstmenge nicht erreichen – es sei denn, er wäre physisch in der Lage, an einem einzigen Tag Käse zu vertilgen, dessen mit Natamycin behandelte Oberfläche 18 Quadratdezimeter beträgt. Der ADI-Wert ist also nicht das Problem. Prekär ist, dass der Konsument regelmäßig geringe Mengen eines in der Medizin verwendeten antibiotischen Wirkstoffs zu sich nimmt – und dadurch mit jedem Bissen der Antibiotikaresistenz Vorschub leistet. Wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in einem Bericht feststellt, sind selbst diese geringen Mengen geeignet, die Mikroflora des Verdauungstraktes so zu beeinflussen, dass es zu Verschiebungen zwischen den einzelnen Arten und Stämmen kommen kann; Resistenzen sind zu befürchten. 41 Doch: Wer weiß das |114| schon? Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) jedenfalls fordert nicht nur eine konsequentere Aufklärung des Verbrauchers, es mahnt auch an, Substanzen, die in der Humanmedizin zum Einsatz kommen, »nur restriktiv« einzusetzen. Technologisch unvermeidbar ist die Anwendung von Natamycin auf Würsten, deren Hülle mitgegessen werden kann, oder bei Rohschinken nicht.
In diesem Licht betrachtet, tönt die Entwarnung von anderer offizieller Seite allzu laut. »Das Europäische Parlament und der Europarat haben ein detailliertes Kennzeichnungssystem für Lebensmittelzusätze etabliert, das gewährleisten soll, dass Verbraucher hinsichtlich Lebensmitteln mit Konservierungsstoffen eine informierte Wahl treffen können«, lässt das Europäische Informationszentrum für Lebensmittel EUFIC auf seiner Internetseite wissen. 42 Auch das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL), im Freistaat (wie die LGL in allen Bundesländern) zuständig unter anderem für Risikoanalyse und Überwachung im Sinne des Verbrauchers, hat von Amts wegen einzig ein Auge auf die Einhaltung des ADI-Werts, aber nicht auf die lauernden Gefahren des Natamycineinsatzes in Lebensmitteln. Es hat in den vergangenen drei Jahren bei keiner der über 1 000 Käseproben eine Überschreitung der Höchstmenge oder das Vorhandensein von Natamycin unterhalb von fünf Millimetern festgestellt und setzt also voraus, dass der Käsefreund die Rinde seines Edamer oder Gouda nicht zaghaft, sondern bewusst großzügig wegschneidet.
Dass der Verbraucher nicht nachdrücklicher gewarnt wird, ist wohl politisch so gewollt: Eine Käsehysterie bekäme der Industrie – und damit der gesamten wirtschaftlichen Situation in Deutschland – schlecht. Erfahrungsgemäß lässt sich der Esser vor allem von der Argumentation großer Boulevardblätter leiten, nicht aber von der sachlich-spröden Informationstaktik von Behörden und wissenschaftlichen Institutionen. Sie können nur beobachten, dass die Verunsicherung über Lebensmittel in der Bevölkerung in den vergangenen Jahren weite Kreise gezogen hat; schlüssige Daten aus Forschungsarbeiten, warum das so ist, gibt es bis heute allerdings nicht. Verunsicherung ist eben ein Bauchgefühl und schlecht zu fassen. 43 Allgemeine Technikskepsis und pessimistische Weltsicht, steigendes |115| Umweltbewusstsein, widersprüchliche Aussagen auch seriöser Einrichtungen, von politischen und wirtschaftlichen Interessen geprägte Debatten und vor allem Lebensmittelskandale scheinen das Denken und Empfinden der
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