Die Joghurt-Luege
Aussichten
Den 20. September 2000 haben viele Lebensmittelüberwacher noch heute gut in Erinnerung. Es war der Tag, an dem gleich zwei EU-Richtlinien in Kraft traten, um die Bestrahlung von Lebensmitteln europaweit zu regeln. Nur drei Monate später, im Dezember 2000, war das Brüsseler Werk in Deutschland Gesetz 95 : Danach dürfen lediglich bestrahlte Kräuter und Gewürze in den Handel gelangen; alles, was Gamma-, Röntgen- oder Elektronenstrahlung ausgesetzt wurde, muss deutlich gekennzeichnet sein.
Doch weil in einigen Ländern der EU neben Kräutern und Gewürzen auch Obst oder Gemüse mit ionisierenden Strahlen behandelt werden darf, ist die eine oder andere Erdbeere im Supermarktregal auf diese Weise präpariert, ohne dass es jemand auf Anhieb bemerken würde. Der Vorteil für den Handel liegt auf der Hand: Radioaktive Bestrahlung kann das Reifen von Erdbeeren oder Südfrüchten verzögern, Cognac hingegen altert unter ionisierendem Beschuss schneller. Kartoffeln und Zwiebeln keimen weniger aus. Schließlich dienen Bestrahlungen auch dazu, Keime in Lebensmitteln abzutöten. So wird aus Lebensmitteln, die wegen ihrer übermäßigen Bakterienfracht nicht für den menschlichen Verzehr geeignet sind, umgehend essbare Ware: »So wurde 1987 ein Fall bekannt, wo dänische Händler mikrobiell verseuchte Muscheln und Garnelen zur Bestrahlung in die Niederlande exportierten, um sie anschließend wieder zurück in Dänemark auf den heimischen Märkten zu verkaufen«, konstatierte das Umweltinstitut München e.V. 96
Für Unternehmen liegen die Vorteile ionisierender Strahlen auf der Hand. Sie bringen einen umsatzsteigernden Zeitgewinn, lassen weitere Transportwege und eine deutlich längere Lagerung zu. Außerdem verbessern sie bestimmte technologische Eigenschaften. Beispielsweise erhöht sich die Saftausbeute deutlich, nachdem die Früchte oder Gemüse bestrahlt wurden.
Für Konsumenten bedeutet Bestrahlung indes nicht unbedingt ein Gewinn an Lebensmittelqualität: Was der Verbraucher eher nicht sehen, riechen oder schmecken kann, sind die Nachteile. Weil die Bestrahlung Enzyme unschädlich macht, die normalerweise zum |274| Verderb des Lebensmittels führen würden, gaukeln sie Frische vor. Auch sind einige Vitamine sehr strahlenempfindlich, so dass der Vitamingehalt durch die Bestrahlung oft dem eines gekochten Produkts entspricht. Auch können die für die Herz-Kreislauf-Prophylaxe wichtigen ungesättigten Fettsäuren durch Bestrahlung leiden, geben die Verbraucherzentralen zu bedenken. Besonders unappetitlich ist wohl, dass die Methode dazu dienen kann, Hygienemängel bei der Produktion auf einfachste Weise aus der Welt zu schaffen.
Die Folgen des Konsums bestrahlter Lebensmittel sind nicht ausreichend erforscht. Zwar weisen bestrahlte Lebensmittel nach bisherigem Stand der Forschung kein direktes Strahlungsrisiko für die Verbraucher auf, sie sind also nicht radioaktiv. Doch wichtige Fragen bleiben nach wie vor ungeklärt. Jede Bestrahlung kann nämlich neben den ausgewählten Zielkeimen auch andere Substanzen verändern – die Bildung von krebserregenden freien Radikalen kann nicht ausgeschlossen werden. Selbst so genannte Radiotoxine, Gifte also, die erst nach der Bestrahlung entstehen, werden als Nebeneffekt der Behandlung für möglich gehalten.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) wiederum hält eine Dosis bis zu 10 Kilogray (kGy, Gray ist die SI-Einheit für die durch ionisierende Strahlung verursachte Energiedosis und beschreibt die pro Masse absorbierte Energie) für unbedenklich – andere Forscher sehen die gesundheitliche Unbedenklichkeit als nicht erwiesen an. So gut wie nicht erforscht sind auch die Langzeitwirkungen beim Verzehr von bestrahlten Lebensmitteln.
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|275| Kapitel 5
Die gesellschaftlichen Folgen des Lebensmittelgeschäfts
Wir essen uns krank, und die Lebensmittelindustrie liefert den Stoff, der uns süchtig macht. Allein in Deutschland kostet die Behandlung ernährungsbedingter Krankheiten mittlerweile 71 Milliarden Euro. Überall in der westlichen Welt entwickelt sich Fettleibigkeit zum (un-) heimlichen Killer: In ganz Westeuropa sterben pro Jahr 200 000 Menschen an ihren Folgen; 2005 hat sie in den USA erstmals das Rauchen als Todesursache überrundet. Spätestens in 40 Jahren wird in Deutschland jeder zweite Erwachsene adipös sein – wie eine alternde Gesellschaft dieses wirtschaftliche und soziale Problem bewältigen soll, dazu wagen nur die
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