Die Joghurt-Luege
»dynamisches Minimierungskonzept« beschlossen, das die stufenweise Absenkung der Acrylamidgehalte vorsieht. Seit dem 27. August 2002 sammelt das BVL Analyseergebnisse vorwiegend aus der Lebensmittelüberwachung der Länder. Bislang hat es rund 10 000 Untersuchungsergebnisse zusammengetragen (Stand: 21.10.2005). Diese Daten werden zu Warengruppen klassifiziert und aus ihnen diejenigen Produkte herausgefiltert, die zu den 10 Prozent der am höchsten belasteten Lebensmittel gehören. Die Bundesländer werden auf die in ihrem Zuständigkeitsbereich ansässigen Hersteller hingewiesen, deren Produkte zu den besonders belasteten Lebensmitteln gehören. Die Überwachungsbehörden nehmen Kontakt mit den Herstellern auf.
Knapp ein Jahr nach der schwedischen Publikation wurde auch die Europäische Kommission aktiv und veröffentlichte im Internet eine neue Forschungsdatendank zur Acrylamidbelastung von Lebensmitteln 86 , um festzustellen, wie sich die Acrylamidkonzentrationen in Lebensmitteln senken lassen. Die Datenbank wurde in enger Zusammenarbeit mit der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit erarbeitet und stellt EU-Forschungsarbeiten zum Thema Acrylamid zusammen.
David Byrne, EU-Kommissar für Gesundheit und Verbraucherschutz, unterstrich bei der Eröffnung der Datenbank die Bedeutung der Forschungsbemühungen: »Wir müssen die Problematik der Acrylamidbelastung von Lebensmitteln aufmerksam untersuchen, um die potenzielle Bedrohung der Verbrauchergesundheit und den möglichen Handlungsbedarf einschätzen zu können. Es ist wichtig, dass alle Wissenschaftler einen Überblick über die laufenden Forschungsarbeiten gewinnen.« 87
Was jedoch am meisten interessiert, bleibt in dergleichen Konzepten außen vor: Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Aufnahme von Acrylamid und der effektiven inneren Dosis. Es reicht eben nicht aus, Menschen nach ihren Verzehrgewohnheiten zu befragen, um daraus die individuelle Belastung abzuleiten.
Wird in einem Lebensmittel ein krebserregender Stoff entdeckt, den der Produzent illegal verwendet hat, gilt die Regel: ex und hopp, aus dem Sortiment nehmen und vernichten. Gegen die Schuldigen |269| ermittelt der Staatsanwalt. Was aber, wenn sich problematische Substanzen, wie eben Acrylamid, erst während des Herstellungsprozesses bilden? Dann bleibt das Produkt im Regal – auch wenn es besorgniserregend hohe Gehalte aufweist. Schließlich ist es nicht verboten, Pommes, Chips oder Lebkuchen bei hohen Temperaturen herzustellen. Doch ein legal enthaltener krebserregender Stoff ist nicht minder gefährlich als ein illegal enthaltener.
Eigentlich müsste der Acrylamidgehalt in Lebensmitteln von Jahr zu Jahr sinken. Das jedenfalls haben Bund, Länder und Lebensmittelindustrie vor vier Jahren vereinbart. Das ist bislang nicht geschehen. Ein Problem sind die hohen Margen, mit denen die Lebensmittelindustrie arbeitet. Kleinbetriebe mit viel Handarbeit, die zum Beispiel wenige Tonnen Kartoffeln pro Tag verarbeiten, sind die seltene Ausnahme. Die Regel sind Unternehmen, deren Verarbeitungskapazität bei bis zu 800 Tonnen Kartoffeln pro Tag liegt. Das ist die Crux der Großproduktion: Bei einer solch enormen Menge ist es schlichtweg nicht möglich, auf asparaginarme Sorten zurückzugreifen – die womöglich nicht einmal den technologischen Ansprüchen der Weiterverarbeitung entsprechen. Schließlich eignet sich nicht jede Sorte für jedes Endprodukt, die Unterscheidung zwischen fest- und weichkochenden Kartoffeln, die jeder Hobbykoch kennt, ist nur ein Aspekt unter vielen.
Die Lebensmittelindustrie könnte die Acrylamidgehalte auch durch eine Feinjustierung der Verfahrensschritte beim Backen und Frittieren vermindern. Das erfordert nicht nur Fingerspitzengefühl, sondern auch die Bereitschaft des Unternehmens, mit einem Plus an Aufwand und Zeit an der richtigen Temperaturführung zu feilen – eine Kostenfrage. Außerdem geht jede Korrektur des Herstellungsprozesses mit einer Veränderung der sensorischen Eigenschaften des Endproduktes einher – ein sehr sensibler und aus Marketingsicht nicht akzeptabler Minuspunkt in Sachen Acrylamidprophylaxe. Darum enthalten gerade Markenprodukte nach wie vor relativ hohe Mengen an Acrylamid, während No-Name-Lebensmittel weniger belastet sind als noch vor vier Jahren. Die Leader der Branche wollen einfach nicht riskieren, dass der vom gewohnten Gusto abweichende Geschmack ihre Kundschaft verprellt.
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