Die Judas-Papiere
Harriet jede Spur, als hätte sie der Erdboden verschluckt.
Alistair und Horatio kamen angerannt. Sofort bildete sich um die beiden Sänften eine Menschenmenge aus Schaulustigen und ande ren, denen der Weg in beide Richtungen versperrt war.
»Was ist passiert?«, rief Alistair, während er sich mit Horatio unter groben Stößen einen Weg durch die Mauer aus Menschenleibern bahnte.
»Um Gottes willen, wo ist Harriet?«
Byron hörte nur ihre aufgeregten Stimmen, die das Geschrei um ihn herum zu übertönen versuchten. Dann nahm er seine Freunde durch den Tränenfluss seiner brennenden Augen verschwommen wahr.
»Sie haben Harriet aus der Sänfte gerissen und entführt!«, stieß er hervor.
»Wer? Wer hat Harriet entführt?«
»Ich weiß es nicht. Es ging alles so furchtbar schnell. Es waren zwei Einheimische, mehr habe ich nicht gesehen. Einer von ihnen hat mir etwas in die Augen geworfen. Ich glaube, es war Pfeffer! Es brennt je denfalls wie verrückt!«
»Verdammt!«, fluchte Alistair zornig. »Wozu hatten wir denn die beiden Leibwächter dabei? Da kommen die Taugenichtse ja an! Wie begossene Pudel! Sie haben die Schurken entkommen lassen!«
Es war Horatio, der an das dachte, was nun zuerst getan werden musste. »Wir brauchen Wasser! Byron muss seine Augen sofort aus spülen!«
Wenig später hockte Byron auf der Kante der Sänfte und spülte sich den Pfeffer aus den Augen. Was jedoch viel schmerzhafter in ihm brannte als seine Augen, die sich von dem heimtückischen An schlag schon wieder erholen würden, war die Angst um Harriet. Er machte sich Vorwürfe, dass er ihre Entführung nicht hatte verhin dern können.
»Du hast dir nichts vorzuwerfen, Byron«, sagte Alistair. »Keiner von uns hätte mit Pfeffer in den Augen etwas ausrichten können. Der Überfall war offensichtlich bis ins Kleinste geplant. Und ich sage euch, dahinter stecken nicht irgendwelche einheimischen Ganoven, die auf Lösegeld aus sind, sondern diese verfluchte Bande vom Ordo Novi Templi!«
»Das sieht mir auch so aus«, sagte Horatio und bemerkte dann den Briefumschlag, der auf dem Boden der Sänfte lag. Schnell bückte er sich danach. »Und hier haben wir die Bestätigung. Auf dem Umschlag stehen doch tatsächlich unsere drei Namen! Sie wissen also sogar, wer wir sind!«
»Hol mich der Teufel!«, stieß Alistair hervor. »Was steht in dem Brief?«
Horatio riss ihn auf und zog eine Briefkarte hervor. »Die Nachricht der Entführer ist denkbar knapp, aber eindeutig: Wenn Sie Miss Cham berlain wohlbehalten zurückhaben wollen, folgen Sie meinen Anweisungen! Kehren Sie sofort ins Pera Palace zurück. Dort liegt ein Brief an der Rezep tion für Sie mit weiteren Verhaltensmaßregeln. Sprechen Sie mit keinem anderen darüber, wenn Ihnen etwas am Leben von Miss Chamberlain liegt! Das alles in gestochen scharfer Handschrift und in fehlerfreiem Eng lisch. Keine Frage, diese Zeilen stammen von einem Landsmann. Als Unterschrift steht noch P. B. unter der Nachricht.«
»Verfluchte Teufelsbande!« Wütend trat Alistair gegen die Sänfte. »Jetzt haben sie das Ass in der Hand und können uns jeden Preis dik tieren!«
Byron hielt sich nicht mit langem Reden und Zetern auf. »Los, zu rück ins Hotel! Und schaff uns die Leibwächter vom Hals, Alistair. Aber mach ihnen klar, dass sie über den Überfall und Harriets Entfüh rung Stillschweigen zu bewahren haben! Wir dürfen nicht das ge ringste Risiko eingehen, das Harriets Leben in Gefahr bringen könn te!«
Alistair ließ eine wahre Schimpfkanode über ihre Leibwächter niedergehen und drohte ihnen, dafür zu sorgen, dass man sie auf die Bastonade binden und auspeitschen würde, wenn sie nicht den Mund über den Überfall halten würden. Die beiden Männer waren froh, für ihr schändliches Versagen nicht bestraft zu werden. Nur zu bereitwillig versprachen sie, genau das zu tun, was der Efendi von ihnen verlangte.
Im Hotel lag dann wie angekündigt ein weiterer Brief der Entführer in ihrem Fach. Mittlerweile hatte der feurige Reiz in Byrons Augen erheblich nachgelassen, sodass er nun in der Lage war, die zweite Anweisung selber zu lesen.
»Begeben Sie sich auf Ihr Zimmer, warten Sie dort auf die nächste Anwei sung, egal wie lange es dauert, bis Sie meine nächste Nachricht erhalten! Und halten Sie Mortimer Pembrokes Notizbuch für den Austausch bereit! Noch einmal: Reden Sie mit keinem und versuchen Sie erst gar nicht, beson ders clever zu sein! Solange Sie sich an meine Anweisungen halten,
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