Die Judas-Papiere
Tempera gemalt sind. Und eine Tempera-Ikone bekommt auch im hohen Alter keine Sprünge und Risse.«
»Na gut, dann müssen wir eben einen anderen Weg finden, um in dieses Kloster zu kommen«, sagte Alistair achselzuckend. »Uns wird schon etwas einfallen. Und erst haben wir hier ja noch etwas anderes über die Bühne zu bringen.«
»Aber es kann nicht schaden, sich schon jetzt zu erkundigen, wel cher Dampfer einen Hafen anläuft, der nahe bei Athos liegt, und ge gebenfalls für dieses Schiff schon Kabinen zu reservieren«, schlug By ron vor. »Und das sollten wir gleich morgen Vormittag tun, nachdem wir uns mit Murat getroffen und noch einen genauen Blick auf die Galerie geworfen haben. Denn wer weiß, ob wir Konstantinopel nicht fluchtartig verlassen müssen.«
Harriet nickte. »Am besten packen wir morgen Nachmittag auch schon unser Gepäck, geben es im Reedereikontor zur Aufbewahrung ab und bezahlen unsere Hotelrechnung. Dann zwingt uns nichts zur Rückkehr ins Pera Palace, was unter Umständen nicht ganz ungefähr lich sein könnte – je nachdem, wie die Sache morgen Nacht ausgeht!«
»Die Vorstellung wird ein voller Erfolg, zumindest für uns!«, erklär te Horatio selbstbewusst. »Ich habe schon schwierigere Sachen ge deichselt. Aber dennoch sollten wir es so tun, wie Harriet gesagt hat.«
Gleich am nächsten Morgen zogen sie Erkundigungen nach einer günstigen Schiffsverbindung ein. Denn ein Blick auf die Landkarte und das Schienennetz hatte gezeigt, dass sie zu Land erheblich län ger unterwegs sein würden als per Schiff.
Sie fanden einen Dampfer der griechischen Panhellenios-Linie, der auf den Namen Xerxes getauft war. Man wies sie im Kontor der Reederei vorsorglich darauf hin, dass die Kabinen auf der Xerxes alles andere als Luxus boten, was sich auch in dem bescheidenen Fahrpreis widerspie gelte. Aber das kümmerte sie nicht. Denn auf alle anderen Dampfer hätten sie je nach Gesellschaft zwei bis drei Tage warten müssen.
Zudem würde die Xerxes unterwegs nur dreimal kurz Station ma chen. Als ersten Hafen auf seiner Route nach Saloniki lief der Dampfer Kum-Kale an, das nahe bei Troja an der türkischen Westküste lag, danach machte er einen kurzen Abstecher zur Insel Limnos und legte als letzte Station vor seinem Zielhafen Saloniki kurz in Karyäs an, einem kleinen Küstenort an der Westseite der Athos-Halbinsel. Von dort war es nicht mehr weit bis zum Kloster Simonopetra.
»Ausgezeichnet, dass wir schon gleich morgen früh nach Athos auf brechen können!«, sagte Byron.
»Hoffe nur, dass der Dampfer kein Seelenverkäufer ist, der nur noch von Rost zusammengehalten wird!«, meinte Horatio. »Wasser ist nicht gerade mein bevorzugtes Element. Werde einfach zu schnell seekrank.«
»So schlimm wird es bestimmt nicht werden!«, sagte Harriet. »Und die knappen anderthalb Tage Überfahrt werden wir schon überste hen, auch wenn die Xerxes offenbar alles andere als der Orient-Express ist!«
Alistair rieb sich die Hände. »Das läuft doch alles wie geschmiert, Freunde! Vor uns liegt jetzt nur noch ein netter Abend im Kasino!«
7
B arfüßige Sänftenträger mit Oberarmen wie dicke Ankertrossen trugen sie durch den Großen Basar, der mit seiner enormen Ausdeh nung das Hauptgeschäftszentrum von Konstantinopel war. Er nahm in einiger Entfernung zu den Hafenanlagen am Goldenen Horn ein ganzes, abgegrenztes Stadtviertel zwischen der Bajesid-Moschee und der Nuri-Osmanie-Moschee ein und war nur durch bestimmte Tore zugänglich, die abends geschlossen und bewacht wurden.
Wer sich als Fremder allein in jenes Labyrinth hineinwagte, der war gut beraten, sich für dieses Abenteuer mit einem Kompass auszurüsten. Denn nur zu leicht konnte man sich in dem unübersichtlichen und weit verzweigten Gewirr der überwölbten Gassen verirren, die mit ihren beidseitig gelegenen Buden und Läden lange Hallen bildeten. Durch die eingestaubten Fenster in den Wölbungen über den Ladenstraßen und in einigen hohen Kuppeln fiel nicht allzu viel Licht. Und dieser leichte Dämmerschein, der auch an sonnigen Tagen über allem lag, verstärkte den orientalischen Zauber, dem sich kein Nicht-Orientale entziehen konnte.
Da sie zu viert waren, hatten sie zwei Sänften nehmen müssen. By ron hatte beim Einsteigen darauf geachtet, dass er sich mit Harriet eines dieser wippenden und schaukelnden Verkehrsmittel teilte. Alistair und Horatio befanden sich in der vorderen der beiden Sänf ten. Den Schluss bildeten die beiden
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