Die Judas-Papiere
großen Kirchen, auch die Hagia Sophia, wurden in Mo scheen verwandelt.
Vor dem rechteckigen Bau, der etwa hundert Ellen in der Länge und etwa sechzig, siebzig Ellen in der Breite maß, lag eine Menge Bauholz herum. Auch Erde war aufgehäuft und unter einem Unter stand aus Brettern standen mehrere Wannen zum Mischen von Ze ment und vor der Wand lagerten graue Säcke. Es handelte sich offen sichtlich um eine Baustelle. Und dass sich keine Wächter blicken lie ßen, um nächtlichen Diebstahl zu verhindern, ließ sich nur damit er klären, dass die Ordensmänner sie entweder bestochen hatten oder aber die Nachtwächter gehörten zu den Einheimischen, die den Überfall im Großen Basar ausgeführt hatten.
»Was soll das bloß sein?«, flüsterte Horatio. »Ein alter Palast, der renoviert wird?«
Byron schüttelte den Kopf. »Dafür fehlt es an fast allem, was einen Palast ausmacht, sieht er doch zu sehr nach einem Kasten aus. Aber was für eine Bewandtnis es mit dem Bau einmal hatte, kann ich dir auch nicht sagen.«
Augenblicke später, als sie dem Österreicher durch den Eingang folgten und über einen breiten Brettersteg in das dunkle Innere tra ten, wusste Byron, welchem Zweck diese Anlage einst gedient hatte.
»Das ist eine jahrhundertealte Zisterne!«
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A us der Tiefe der Zisterne ragten gut und gern hundert Säulen mit korinthischen Kapitellen empor. Ihre Höhe lag bei mindestens drei ßig, vierzig Ellen und sie bildeten eine lange Reihe hinter der ande ren. Vom Eingang bis zur hinteren Längswand mochten es zehn, viel leicht sogar zwölf Säulenreihen sein, die das Dach der Zisterne tru gen.
Hinter dem Eingang führte eine breite Steintreppe hinunter auf den Grund des uralten Wasserbeckens, das wohl schon vor der Er oberung Konstantinopels aufgegeben worden war. Möglicherwei se war die Quelle versiegt, die die Zisterne speiste, oder eine Kor rektur der Umfassungsmauern der Stadt hatte zu ihrer Aufgabe ge führt.
Aber was immer auch der Grund dafür gewesen war und weshalb man jetzt mit ihrer Instandsetzung begonnen hatte, es interessierte Byron und seine Freunde nicht. Ihr Blick suchte in diesem Säulen wald nach Harriet.
Neben der abwärtsführenden Steintreppe begann einer der lan gen Bretterwege, die auf Baugerüsten ruhten, einander rechtwink lig kreuzten und gute fünfzehn Ellen über dem Grund durch das Säulenfeld führten. Hier und da ragte das Ende einer von unten kommenden Leiter über den Rand der Bretterstege. Auch über ih ren Köpfen hatte man schon Gerüstbalken zwischen den Säulen eingezogen und mit dem Bau erster Laufstege begonnen, um dem nächst auch an der schadhaften Decke mit Ausbesserungsarbeiten beginnen zu können.
»Tenkrad? Bist du es?«, schallte eine harte, befehlsgewohnte Män nerstimme durch die Halle der Zisterne. Sie kam etwas links von der Mitte, wo der Lichtschein einer Lampe auf die Bretter von zwei sich kreuzenden Wegen fiel. Das Englisch des Mannes wies ihn als Eng länder aus, dessen Aussprache eine leicht walisische Intonation be saß.
»Ja, Perfectus!«, antwortete der Österreicher mit hörbarer Unter würfigkeit. »Ich bringe die Männer. Es ist alles so, wie Sie verlangt haben. Sie haben das Notizbuch. Es ist das richtige. Ich habe mich davon überzeugt.«
»Dann bring sie her!«, befahl der Fremde, den der Österreicher mit Tenkrad angesprochen hatte und der offenbar den Ordenstitel »Perfectus« trug.
Byron wusste sofort, woher er diesen Titel aus der Religionsge schichte kannte. Es verwirrte ihn für einen kurzen Moment. Denn es ergab keinen Sinn, dass jene Glaubensgemeinschaft, bei der die Per fecti eine maßgebliche Rolle gespielt hatten, gleichbedeutend mit dem Ordo Novi Templi sein sollte. Aber in dieser Situation verspürte er weder das Verlangen, länger darüber nachzudenken, noch blieb ihm die Zeit dazu. Denn inzwischen hatten sie etwa die Mitte der Zisterne ereicht. Und da fiel ihr Blick, als der Österreicher sich nach links wandte, auch schon auf Harriet.
Byron fuhr bei ihrem Anblick entsetzt zusammen. Ihm war, als leg te sich eine Eisenzwinge um seine Brust und presste sie mit aller Ge walt zusammen.
»Allmächtiger!«, entfuhr es Horatio.
»Diese Schweine!«, zischte Alistair und ballte die Fäuste.
Etwa ein Dutzend Schritte von ihnen entfernt stand Harriet mit auf dem Rücken gefesselten Armen auf einem dreibeinigen Holzhocker. Ein Knebel verschloss ihren Mund. Und um ihren Hals lag die Schlin ge eines Seils, das ein gutes Stück
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