Die Judas-Papiere
rechts von ihr oben an einem Bal ken verknotet war. Kippte sie vom Schemel, würde das Seil sie vom Steg weg und über den Abgrund reißen – und ihr augenblicklich das Genick brechen.
Neben Harriet stand ein schlanker Mann von vielleicht fünfundvierzig, fünfzig Jahren, der mit einem weiten schwarzen Wollumhang bekleidet war. Sein Haar, in das sich schon einiges Grau mischte, war noch kürzer geschnitten als das von Tenkrad. Die Seitenpartien waren sogar glatt rasiert, was seinem Schädel ein noch markanteres, jedoch nicht eben anmutiges Aussehen verlieh. Es drückte freudlose Strenge aus und diese Strenge fand sich auch in seinen harten Gesichtszügen. Links von ihm hing von einem Querbalken ein weiteres Seil herab, an dessen einem Ende ein kleiner Korb befestigt war. Neben dem Korb stand eine brennende Petroleumlampe.
Hinter diesem Mann, bei dem es sich zweifellos um den Perfectus handelte, hielt sich in einem respektvollen Abstand von zwei, drei Schritten noch ein zweiter Ordensbruder auf. Er war von gedrunge ner Gestalt, höchstens Mitte zwanzig, trug das Haar ebenfalls kurz und über den Ohren glatt rasiert und hatte das schmale, spitze Ge sicht eines Frettchens.
»Halt!«, rief der Perfectus, als sie sich Harriet und ihm bis auf zehn Schritte genähert hatten. »Keinen Schritt weiter!«
Der Österreicher beeilte sich, dass er zu seinem Ordensoberen und dem Kerl mit dem Frettchengesicht kam.
Byron war bei Harriets Anblick schreckensbleich geworden und musste erst heftig schlucken, bevor er seine Stimme wiederfand. »Wieso legen Sie unserer Freundin, die Ihnen nichts getan hat, eine Galgenschlinge um den Hals?« Er hatte Mühe, seinen Zorn und seine Angst um Harriets Leben unter Kontrolle zu halten.
»Eine Vorsichtsmaßnahme, nichts weiter!«, sagte der Perfectus gleichgültig. »Ihr wird nichts passieren, wenn Sie sich an meine An weisungen halten. Es liegt also ganz in Ihrer Hand, wie diese Sache ausgeht. Doch vergessen Sie nicht: Ein kurzer Tritt, und die irdische Mühsal Ihrer Freundin hat ein Ende.« Damit stellte er seinen Fuß kurz auf die Kante des Hockers.
»Nehmen Sie Harriet erst die Schlinge ab, dann bekommen Sie Mortimers Aufzeichnungen!«, verlangte Byron und hielt dabei das Notizbuch hoch.
Der Perfcetus antwortete mit einem geringschätzigen Lächeln: »Sie irren! Ich gebe hier die Befehle! Erst wenn ich mich davon überzeugt habe, dass Sie mir auch wirklich Mortimer Pembrokes Notizbuch ausgehändigt haben, kommt sie frei. Keine Sekunde früher! Und wenn dem so ist, hat Ihre Freundin nichts zu befürchten. Wir nehmen einem Menschen nicht aus Lust das Leben, sondern nur dann, wenn eine solche Strafe notwendig ist. Und nun den Korb, Tenkrad!« Und an Byron, Alistair und Horatio gewandt, fuhr er fort: »Fangen Sie den Korb auf, legen Sie das Notizbuch hinein und lassen Sie dann den Korb einfach los. Aber bitte mit Gefühl!«
Der Österreicher bückte sich eiligst nach dem Korb und ließ ihn an dem herabhängenden Seil nach vorne schwingen.
Horatio bekam den Korb zu fassen und hielt ihn fest. Byron legte Mortimers Notizbuch hinein und Horatio ließ den Korb los. Er schwang zum Perfectus zurück. Und indem Tenkrad das Seil dabei wieder anzog, schlug er auch nicht auf den Brettern auf, sondern pendelte seinem Oberen in Brusthöhe entgegen, sodass dieser den Korb bequem auffangen und das Notizbuch herausnehmen konnte.
Gerade war der Perfectus neben der Petroleumlampe in die Hocke gegangen, um in dem Buch zu blättern, als hinter Byron und seinen Freunden Bretter knarrten.
Noch bevor sie sich nach dem Geräusch umgedreht hatten, rief ei ne Stimme in krudem, fehlerhaftem Englisch den scharfen Befehl: »Niemand sich bewegen, Engländer! Sofort still alle, sonst ihr fahren in Hölle von Ungläubig!«
Nicht nur Byron, Alistair und Horatio fuhren bei dem Anruf er schrocken zusammen, sondern auch der Perfectus und seine beiden Ordensbrüder.
Aus dem Dunkel hinter ihnen waren vier türkische Männer aufgetaucht, bekleidet mit einfachen Gewändern und mit einem Fez auf dem Kopf. Zwei von ihnen, zu denen auch ein baumlanger Kerl gehörte, waren mit Flinten bewaffnet. Die beiden anderen hielten Pis tolen in den Händen. Man sah ihnen an, dass sie zu dem Gesindel der Stadt gehörten, das nach seinen eigenen schurkischen Gesetzen lebte.
»Bist du von Sinnen, Said?«, zischte der Perfectus den vorderen der beiden Türken herrisch an, die mit ihren Pistolen auf sie zielten. »Was hast du mit deinen
Weitere Kostenlose Bücher