Die Judas-Papiere
Torpedo zu verpassen. Na, ist die Argonaut VI nicht ein prächtiges Stück modernster Technik?« Beifall heischend blickte er sie an – und blickte nur in angespannte blasse Gesichter.
»Ein stinknormales Dampfboot, das über Wasser fährt, hätte es auch getan«, murmelte Horatio.
Der Waffenschieber lachte. »Ach was, das musste ich Ihnen einfach zeigen! Es ist mein derzeitiger Renner und basiert auf den Plänen des amerikanischen U-Boot-Bauers John Holland. Das submersible, wie die französischen Ingenieure das Tauchboot nennen, hat eine Länge von fast 90 Fuß, verdrängt 65 Tonnen, wird von einem kombi nierten Diesel-Elektro-Motor angetrieben, verfügt über sage und schreibe 564 Akkumulatoren, die sich bei Dieselfahrt über Wasser wieder aufladen, macht getaucht gute fünf Knoten und kann eine Tiefe von etwa 80 Fuß erreichen!«
»Sehr interessant«, murmelte Horatio. »Aber ich würde lieber er fahren, wann wir auftauchen und wieder sicheren Boden unter die Füße bekommen!«
Basil Sahar lachte belustigt. »Hier sind Sie fast so sicher wie in Ab rahams Schoß!«, versicherte er. »Aber zu Ihrer Beruhigung: Captain Revén dreht mit uns nur eine kleine Runde. In ein paar Minuten wer den wir hinter der Spitze des asiatischen Festlands wieder auftau chen und dort wird dann auch schon das Kaik auf uns warten.«
»Ihr Wort in Gottes Ohr!«, seufzte Horatio.
»Wir werden noch vor Mitternacht in der Bucht von Haidar Pascha anlegen, wo ich Zimmer im Hotel Mahallé reserviert habe und wo Sie auch Ihr Gepäck vorfinden werden «, teilte Basal Sahar ihnen mit. »Es kann sich zwar nicht annähernd mit dem Pera Palace messen, aber es wird europäisch geführt und es ist ja auch nur für eine Nacht. Mor gen früh sind Sie dann mit der Skutari-Fähre im Handumdrehen im Stambuler Hafen und können dort an Bord der Xerxes gehen.«
Zehn Minuten später tauchten sie zu ihrer Erleichterung endlich wieder auf. Sie stiegen in das große Kaik um, das sie in die Bucht von Haidar Pascha brachte, wo seit dem Bau der Anatolischen Eisenbahn ein Hafen und ein schnell wachsender Ort von europäischer Prägung entstanden.
Byron und seine Gefährten wünschten sich nach dem, was sie an diesem Tag und in dieser Nacht an Gefahren überstanden hatten, nichts sehnlicher, als noch für eine Weile unter sich zu sein und ei nen ersten Blick auf die Papierrolle aus dem Griffstück des Krumm schwertes zu werfen.
Aber Basil Sahar bestand darauf, die gelungene Aktion mit einer Flasche Champagner in der kleinen Hotelbar zu feiern. Und so wurde es Viertel nach eins, bis sie sich schließlich voneinander verabschie deten, ihre Zimmer aufsuchten und völlig erschöpft in ihre Betten fielen.
1 5
B ei ihrer Ankunft am Goldenen Horn hatten sich Graham Baynard und seine beiden Ordensbrüder im Hotel Métropole einquartiert, ei nem zweitklassigen Haus mit sehr bescheidenen Zimmern an der Ecke der Rue Venedik.
Ein solides Bett, ein Kleiderschrank mit klemmender Tür, neben dem Fenster eine Waschkommode mit angestoßenem Porzellan, da zu ein einfacher Holztisch mit zwei ebenso einfachen wie harten Stühlen, das war alles, was das Métropole seinen Gästen zu bieten hatte. Und das war für die Bedürfnisse von Graham Baynard mehr als genug. Alles andere wäre nur unnützer Tand und eine schändliche Schwäche gegenüber den Versuchungen des Demiurgen gewesen.
An Tenkrad und Breitenbach, die in der Zisterne für den Ordo Novi Templi ihr Leben gelassen hatten, verschwendete der Perfectus keine Gedanken, als er kurz vor Anbruch der Dämmerung am Tisch saß. Die Welt würde sie nicht vermissen, zumal sie auch nur den einfa chen Rang eines Credens gehabt hatten und somit noch weit von der wahren Erleuchtung entfernt gewesen waren.
Vor ihm auf dem Tisch stand wieder einmal die eiserne Statue des vom Baum hängenden Judas zwischen den beiden schwarzen Ker zen. Davor lagen die heilige Schrift des Markion, die Geißel sowie Mortimers Notizbuch. Die Kerzen brannten jedoch nicht und Mar kions Buch mit der einzig wahren Lehre war zugeschlagen. Denn dies war nicht die Stunde für heilbringende Verfluchungen, sondern die Stunde seines unverzeihlichen Scheiterns.
Hinter Graham Baynard lag eine entsetzlich lange Nacht, in der er von den Höhen euphorischer Freude in den Abgrund schreckensvoller Bestürzung getaumelt war. Was hatte er innerlich jubiliert, als er dem Überfall in der Zisterne entkommen war. Er hatte es nicht er warten können, zurück in sein
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