Die Judas-Papiere
»Aber gewiss hat man dich deshalb nicht des Totschlags angeklagt.«
Harriet schüttelte den Kopf. »Nein, alle haben bezeugt, dass es ein Unfall gewesen ist und er sich nicht vor die Mündung des Gewehrs hätte stellen dürfen, als er mich an der Schulter gerüttelt und ge weckt hat.«
»Aber dann hast du dir doch auch nichts vorzuwerfen, was dein Ge wissen belasten könnte!«
»Oh doch, denn ich bin schon lange nicht mehr so sicher, dass es wirklich ein Unfall war! Ich bin sogar überzeugt, dass ich schon wach gewesen bin und mit vollem Bewusstsein den Hahn durchgezogen habe!«, widersprach sie. »Denn ich habe diesen Mann aus tiefster Seele gehasst und vor jenem Herbsttag schon oft das Verlangen ge habt, ihn zu töten.«
»Und warum hast du ihn so gehasst?«
»Weil . . . weil er mich über ein Jahr lang . . . missbraucht hat. Er . . . er ist nie . . . bis zum Letzten gegangen, aber es war auch so schon abscheulich genug. Ich wollte ihn tot sehen . . . und so kam es ja auch«, sagte sie mit kaum vernehmlicher Stimme und dann schlug sie die Hände vors Gesicht und begann zu weinen.
Byrons Bestürzung kannte keine Worte. Und so nahm er sie schweigend in seine Arme, wiegte sie wie ein kleines Kind und strich ihr zärtlich über das Haar.
Später dann, als sie sich wieder gefangen hatte, zog er seinen Mor genmantel aus und schlüpfte zu ihr unter die Bettdecke. »Versuch jetzt zu schlafen, mein Schatz. Ich werde darüber wachen, dass dich keine Albträume mehr quälen werden, du hast mein Ehrenwort!«
Sie lächelte schwach, schmiegte sich dankbar an ihn und legte ih ren Kopf und ihren Arm auf seine Brust, als wollte sie sichergehen, dass er sie nicht irgendwann während der Nacht allein ließ. Wenige Minuten später holte sie der Schlaf.
Byron lag bis zum Morgengrauen wach, weil er nicht eine Sekunde dieser kostbaren Nähe dem Schlaf opfern wollte.
3
I m Morgengrauen schlich Byron sich zurück in seine Kabine. Harriet und er waren übereingekommen, Horatio und Alistair vorerst noch nichts von der neuen Art ihrer Beziehung zu sagen. Das hätte ihr Ver hältnis zu Alistair womöglich belasten und ihnen die Ausführung ih rer Aufgabe erschweren können.
»Alistair ist eine Spielernatur und er weiß, dass er nicht alle Spiele gewinnen kann«, hatte Harriet gesagt. »Aber es ist wohl vernünfti ger, nicht gleich an die große Glocke zu hängen, was mit uns passiert ist. Lassen wir den Dingen ihren Lauf und warten wir ab, wohin sie uns führen.«
Ihr letzter Satz beunruhigte Byron ein wenig. Denn er klang in sei nen Ohren, als hätten sich bei ihr im Licht des Tages leise Vorbehalte geregt, ob ihre Liebe wirklich eine Zukunft haben könnte. Aber dann sagte er sich, dass er wohl zu viel in diesen Satz hineininterpretierte. Ihr Abschiedskuss hatte jedenfalls keinen Zweifel daran gelassen, was sie für ihn empfand.
Die Xerxes hielt ihren Fahrplan recht pünktlich ein. Mit nur einer halben Stunde Verspätung umrundete sie am Nachmittag die Süd-spitze der gut dreißig Meilen langen, aber nur sechs Meilen breiten Athos-Halbinsel. Das Gebirgsmassiv aus kristallinischem Schiefer war mit Wäldern von Eichen, Kastanien und Platanen bedeckt. An vielen Stellen zeigte sich aber auch grauer nackter Fels, auf dem die schwer zugänglichen Klöster und die Skiten, die Behausung der Ere miten, thronten. Im Süden der Halbinsel überragte der Hagion Oros, der Heilige Berg Athos, mit seinem mehr als 6 000 Fuß hohen, wie Marmor leuchtenden Kegel alle anderen felsigen Erhebungen.
Der Dampfer hielt respektvollen Abstand zu der zerklüfteten Küs te, von der immer wieder unwegsame Ausläufer mit niederem Tama riskengebüsch und steilen Felshängen sich weit in das tiefe Blau des Meeres erstreckten.
»Nicht gerade ein einfaches Vorhaben, unbemerkt in so ein Kloster einzudringen«, sagte Alistair mit sorgenvoller Miene, als wieder ein mal ein Kloster auf einem Felsenvorsprung ins Blickfeld kam. »Da wird einem ja schon beim Hinschauen schwindelig!«
Horatio nickte. »Ja, das ist eine echte Herausforderung. Man nennt diese Athos-Klöster auch nicht von ungefähr die ›Schwalbennester der heiligen Männer‹. In der Antike war der Athos den Heidengöt tern geweiht. Er galt den Griechen als ein versteinerter Gigant, der im Kampf mit den Göttern unterlag. Manchmal gibt es hier kleinere Erdbeben, als zucke der steinerne Gigant. Dann reißen nicht selten die Mauern der Klöster ein und hinterlassen tief klaffende Risse.«
»Hätte
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