Die Judas-Papiere
Horatio leise. »Und passt auf, wenn der Bolzen gleich am Seil zu uns zurückschwingt! Wenn wir ihn nicht sofort zu fassen kriegen, muss ich das Seil wieder einziehen und es erneut versuchen.«
Er spulte das lange, dünne Stahlseil von der hölzernen Rolle, führte den Bolzen ein und setzte das Gerät an die Schulter. Langsam zog er die Spannstrebe bis zum Anschlag zurück, während seine linke Hand den Griff umklammerte und das Rohr ausrichtete. Er zielte schräg nach oben auf die dreieckige Öffnung zwischen Kragbalken und Ga lerieboden und gab dann den Spannhebel frei.
Unter einem scharfen, metallisch singenden Geräusch flog der Bol zen aus dem Rohr und zog auf seinem Flug die dünne Stahlleine hin ter sich her.
Horatio hatte gutes Augenmaß bewiesen. In einer perfekten ballisti schen Bahn stieg der Bolzen hoch. Einen Augenblick lang sah es so aus, als hätte er zu hoch gezielt und als würde das Geschoss über sein Ziel hinausschießen. Doch dann machte sich das Gewicht der Stahllei ne bemerkbar. Die Flugbahn erreichte ihren Scheitelpunkt, begann, sich stark zu krümmen, und führte den Bolzen mitten durch die Öff nung. Als das Geschoss hinter dem Balken in die Tiefe fiel, zog Horatio die Leine kurz an und sofort schwang der Bolzen zu ihnen herüber.
Byron griff in die Luft, verpasste ihn jedoch. Der Bolzen sauste an ihm vorbei. Doch zum Glück bekam Harriet hinter ihm die Leine noch zu fassen, bevor sie mit dem Bolzengewicht an ihrem Ende wie der von ihnen wegpendeln konnte.
»Ausgezeichnet! Das wäre der erste Streich!«, freute sich Horatio, legte das Bolzengerät neben sich an die Wand und griff zum Hanfseil mit dem kleinen Bootsanker. »Der Rest ist jetzt ein Kinderspiel!«
Rasch knotete er die Stahlleine an einen der drei gekrümmten Ha ken und zog den Anker dann vorsichtig zum Stützbalken der Galerie hinauf. Zwei-, dreimal musste er kurz an der Stahlleine rucken, dann saßen gleich zwei der Ankerhaken hinter dem Balken. Kräftig zog er am Hanfseil mit den Knoten, um sich zu vergewissern, dass der ver hakte Anker auch wirklich ihrer Belastung gewachsen war und nicht vom Balken rutschen konnte.
»Und an dem Seil sollen wir uns jetzt hinaufhangeln?«, fragte Alis tair. »Was ist, wenn der Anker wegrutscht?«
»Wird nicht passieren!«, versicherte Horatio. »Du hast mein Wort drauf und du kannst dich auch gleich mit eigenen Augen davon über zeugen. Denn ich mache den Anfang. Gebt mir das andere Seil. Ich befestige es oben am Geländer und lasse es neben dem Kragbalken herunterbaumeln. Dann habt ihr es leichter, um den Vorsprung he rumzukommen.«
»Und du?«, fragte Byron beklommen.
»So artistisch wie Harriet bin ich zwar nicht, aber was diese kleinen Hindernisse angeht, so reichten meine Gelenkigkeit und Muskel kraft dafür doch noch aus«, sagte er nicht ohne Stolz und hängte sich das zweite Seil quer über die Brust. »Was meint ihr denn, auf welche Weise ich meine Entlassung aus manchem Gefängnis eigenmächtig vorverlegt habe? Also, ich klettere jetzt hoch. Einer von euch muss sich die Petroleumlampe an den Gürtel hängen, vergesst das bloß nicht! Und haltet das Seilende fest! Wenn es euch wegrutscht, kann keiner mehr nachkommen.«
»Ein eher verlockender als betrüblicher Gedanke«, murmelte Alis tair.
»Wenn du es dir nicht zutraust, bleibst du besser hier«, sagte Hora tio achselzuckend. »Dann erspare ich mir nachher beim Abstieg das Herüberschwingen zur Treppe.« Damit ergriff er das Seil und begann hinaufzuklettern.
Byron hielt es fest und stemmte sich mit den Füßen gegen die Steinkante einer Treppenstufe. Aber Horatio brachte kein schweres Gewicht auf die Waage und erklomm flink und behändig das Seil.
Als er den Balken erreicht hatte, zog er sich hinauf, fasste nach der überhängenden Kante des Bretterbodens über ihm und hing einen Augenblick nur an seinen Händen mehrere Hundert Fuß über dem nebelverhangenen Abgrund.
Nicht nur Byron hielt in diesem Moment den Atem an. Sie alle fürchteten, er könne sich zu viel zugemutet haben und in die Tiefe stürzen. Doch dann verfolgten sie staunend, wie er sich mit der Leichtigkeit eines trainierten Turners an der Bretterkante hochzog, mit der Rechten nach dem Eckpfosten griff, das linke Bein hoch schwang und im nächsten Augenblick bäuchlings auf dem Boden der Galerie lag.
»Alle Achtung!«, stieß Harriet bewundernd hervor. »Das hätte ich auch nicht besser gekonnt!«
Indessen nahm Horatio die zweite Seilrolle von der
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