Die Judas-Papiere
es be hutsam aus seinem daumenlangen Schlitz. »Heureka! Da haben wir Mortimers ›sichtbares Wort‹, wie die Ostkirche Ikonen auch nennt!« Mit einem Ausdruck der Genugtuung klappte er die Klinge wieder ein, steckte das Taschenmesser weg und faltete den etwas mehr als fingerlangen Streifen auf.
Harriet seufzte. »Und wieder einmal sind es äußerst rätselhafte Kritzeleien . . .«
»Was hältst du davon, Byron?«, fragte Horatio, der aus den Zeichen auch nicht klug wurde. »Sagt dir das etwas?«
Byron runzelte die Stirn. »Ich bin mir keineswegs sicher ...Es könnten Zeichen einer Geheimschrift sein, deren Erfindung man den Freimaurern zuspricht. Aber um Näheres sagen zu können, müsste ich mich erst eine Weile mit den Zeichen beschäftigen und sehen, ob ich das Alphabet wieder zusammenbekomme. Und dafür ist hier jetzt wirklich nicht die Zeit.«
»Ganz meine Meinung!«, stimmte Alistair ihm zu. »Verschwinden wir, bevor die Kuttenträger zu ihrem nächsten Palaver . . .«
»Stundengebet!«, korrigierte Horatio ihn. »Ein bisschen mehr Res pekt bitte! Nichts gegen deine Nietzschegläubigkeit, aber deshalb muss man doch nicht so abfällig von der Frömmigkeit der Mönche sprechen!«
Die Zurechtweisung perlte an Alistair ab wie ein Wassertropfen an einer Ölhaut. »Ich meine natürlich: . . . bevor die Kuttenträger zu ih rem frommen Stundengebet hier eintrudeln. Außerdem kann ich es nicht erwarten, gleich wieder wie ein Affe am Seil zu hängen!«
»Manchmal, lieber Alistair, verhältst du dich auch wie ein Affe, oh ne am Seil zu hängen«, sagte Harriet spitz, nahm die Petroleumlam pe wieder an sich und blies die Flamme aus, denn für ihren Rückweg brauchten sie kein Licht.
Unbemerkt kehrten sie auf dem Weg, den sie gekommen waren, auf die untere Galerie zurück. Diesmal machte Harriet am Seil den Anfang. Sie kletterte etwas tiefer, als die Steinstufen der Treppe reichten, und begann dann, das Seil parallel zur Wand in Schwingungen zu versetzen. Augenblicke später hatte sie das Treppenende erreicht, fand gleich beim ersten Versuch guten Halt auf den Stu fen und gab ihnen ein Zeichen, dass der Nächste jetzt kommen konnte.
Horatio stieg als Letzter zu ihnen herunter. Zuerst löste er jedoch das zweite Hilfsseil und warf es ihnen schwungvoll zu. Alistair bekam es zu fassen und wickelte es sich in weiten Schlingen über die Schul ter. Indessen zog Horatio das dünne Stahlseil unter dem Kragbalken hervor und befestigte es am Anker. Kaum stand er unten auf der Treppe, zog er mehrmals an der Stahlleine, bis sich der Anker schließlich vom Balken löste. Horatio zog ihn rasch zu sich heran, konnte jedoch nicht vermeiden, dass der Bootsanker beim Sturz in die Tiefe mehrmals mit einem lauten, kratzenden Geräusch gegen die Schieferwand und gegen die Steintreppe schlug.
Ihnen war, als müsste das metallische Scheppern, das in der Stille der Nacht erschreckend laut klang, die Mönche aus dem Schlaf rei ßen und sie hinaus auf die Galerien stürzen lassen. Doch nichts der gleichen geschah. Kein alarmierender Ruf kam von oben, als sie sich beeilten, die schmale Treppe hinunter und zurück auf den felsigen Pfad zu kommen.
Spiros Konstantinos hatte sein Fischerboot schon aus dem Ufer sand ins Wasser geschoben, als sie bei ihm eintrafen. »Und wer hat nun die Wette gewonnen?«, fragte er.
»Wir natürlich!«, antwortete Alistair großspurig und sprang zu ihm ins Boot. »Und jetzt nichts wie hoch mit dem Segel! Von Klöstern ha be ich jetzt die Nase voll. Es sei denn, es heißt St. Simeon und liegt in Ruinen!«
7
S ie verbrachten eine kalte, unbequeme Nacht am Ufer eines schmalen Küstenabschnitts oberhalb der Daphni-Bucht. Nur zu gern hätten sie in der Fischerhütte von Spiros Konstantinos Zu flucht vor dem nasskalten Wind gesucht. Aber sie wollten nicht das Risiko eingehen, von einem der anderen Fischer gesehen zu wer den oder das Misstrauen der beiden Aufpasser-Mönche zu erregen. Zu groß war die Gefahr, dass Harriets Verkleidung aufflog. Dann würde es erheblichen Ärger mit den Behörden der Mönchsrepublik geben und sie würden so schnell nicht wieder von der Halbinsel fortkommen. Und sich zu dieser Nachtstunde zu Fuß auf den lan gen Weg nach Karyäs zu machen, kam genauso wenig infrage. Auch dort würde man misstrauisch werden, wenn sie die Wirtsleute ih res Gasthofes kurz vor Tagesanbruch aus dem Schlaf holten, um in ihre Zimmer zu gelangen.
Während Spiros Konstantinos sich in seinem Boot ausstreckte
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