Die Judas-Papiere
sich vom Ju dentum abwendet, wird er jedoch kaum gedacht haben. Aber was du gerade über Judas gesagt hast, Horatio, dem stimme ich voll zu. In seiner Tragik ist er wirklich die schillerndste Person des Neuen Tes tamentes.«
»Respekt für einen Verräter?«, fragte Alistair skeptisch vom oberen Bett der anderen Seite.
»Zweifellos! Wie kein anderer hat er durch seinen Verrat und seine Verbindung mit den Hohepriestern ein Äußerstes an Schuld auf sich geladen«, sagte Byron. »Aber zugleich ist er durch seine Tat unlösbar mit Jesu Hingabe auf Golgatha und dem Erlösungsgeschehen verbunden. Wobei es müßig ist, darüber zu sinnen, ob Judas zum Bösen gezwungen war oder nicht und welchen Verlauf Jesu Leben in Jerusalem genommen hätte, wenn Judas ihn nicht den Hohepriestern ausgeliefert hätte.«
»Vielleicht hatte Jesus ja sowieso vorgehabt, sich seinen Häschern auszuliefern, und was Judas getan hat, hat die Sache nur beschleu nigt«, sagte Harriet, die unter ihm im Bett lag.
»Das glaube ich nicht. Denn dann wäre sein Tod nicht Opfer, son dern ein selbstmörderisches Märtyrertum und seine Passion sozusa gen ›selbst gemacht‹ gewesen.«
»Na und?«, fragte Alistair. »Kreuzigung ist Kreuzigung.«
»Eben nicht«, widersprach Byron. »Denn dann hätte sein Tod nie die Erlösungskraft haben können wie das reine, von außen kommen de und auferlegte Leiden. Zwar wird Jesus eine Todes bereitschaft und auch eine Todes ahnung gehabt haben, aber eine eigene Mittäter schaft an seiner Kreuzigung ist ausgeschlossen.«
»Der Person des Judas ist wirklich schwer beizukommen«, sagte Horatio. »Er kommt mir wie ein Getriebener vor.«
»Und in ihr liegt so viel Widersprüchliches«, ergänzte Harriet. »Et wa, dass er Jesus erst scheinbar kaltblütig ausliefert und die dreißig Silberstücke von den Hohepriestern annimmt, sich aber dann zwi schen Jesu Tod und seiner Auferstehung voll Reue das Leben nimmt. Widersprüchlich ist auch, dass Jesus ihn sowohl beim letzten Abend mahl als auch bei der Festnahme am Ölberg trotz allem noch mit ›Freund‹ anspricht.«
Byron stimmte ihr zu. »Die Tat des Judas verstehen und deuten zu wollen, das wird so unmöglich sein wie die Quadratur des Kreises. Judas ist wohl die widersprüchlichste Gestalt der Menschheitsge schichte. Irgendein Philosoph hat ihn einmal einen Verräter und Mär tyrer genannt, dem das Christentum das Mysterium von Golgatha ›verdankt‹. Dieses Paradox trifft es vermutlich recht gut.«
»Und wie steht es dann mit der angeblich grenzenlosen Liebe Got tes?«, hakte Alistair sofort nach. »Wenn es ihn gäbe, müsste er Judas dann nicht verzeihen, obwohl sein Verrat zur Kreuzigung seines göttlichen Sohnes geführt hat?«
»Eine gute Frage«, sagte Horatio.
»Ich bin sicher, dass er nicht auf ewig in der untersten Höllentiefe schmort, wohin Dante ihn in seiner Göttlichen Komödie verbannt hat«, sagte Byron. »Aber wer könnte darauf schon eine gesicherte Antwort geben? Zu allen Zeiten haben große Schriftsteller und Philosophen den Versuch unternommen, das Verhalten des Judas zu deuten und seiner Person einen tieferen Sinn in der Heilsgeschichte zu geben. Aber wirklich befriedigend ist bislang keiner dieser Versuche gewe sen.«
»Vielleicht werden ja die Judas-Papyri, die Mortimer gefunden hat, näheren Aufschluss über die wahren Motive der Tat geben«, sagte Harriet.
»Oder sie stellen sich als eine erschreckende Schrift heraus, die auf der geistigen Linie dieses Markion und der Kainiten liegt«, gab Alis tair zu bedenken. »Aber mir soll das eine wie das andere recht sein. Hauptsache, wir finden das Judas-Evangelium.«
»Wenn ich daran denke, dass wir die Papyri vielleicht morgen schon in Händen halten und unser Auftrag damit erfüllt ist, kommt es mich doch irgendwie komisch an«, sagte Horatio versonnen in das Dunkel des Abteils. »Allmählich habe ich mich richtig daran ge wöhnt, mit euch unterwegs zu sein.«
Harriet lachte leise auf. »Und wir uns an dich! Und dabei dachte ich, wir würden uns spätestens in Wien so erbittert in den Haaren liegen, dass Lord Arthurs schöner Traum, dass wir gemeinsam das Versteck für ihn finden und ihn damit zu einem weltberühmten Mann ma chen, schon in Österreich als Desaster endet!«
»Ja, wir waren wirklich kein schlechtes Team«, pflichtete Alistair ih nen bei. »Wenn ich an all die Abenteuer denke, die wir gemeinsam er lebt und überstanden haben, kommt es mir auch ganz unwirklich vor, dass diese
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