Die Judas-Papiere
dem Nil und von seiner überdachten Terrasse im maurischen Stil hatte man einen ausge zeichneten Blick über den ganzen Fluss mit seinen mächtigen Granit felsen und kleinen Inseln, die aus dem Nil aufragten.
Aber sosehr sie den hohen Standard des Hotels und den Ausblick zu schätzen wussten, ihr Sinnen und Trachten galt doch allein der Klosteranlage St. Simeon. Es drängte sie mit aller Macht, über den Fluss und an den Ort zu kommen, wo die Judas-Papyri unter Ruinen versteckt lagen.
Und so saßen sie denn auch keine halbe Stunde nach ihrem Eintref fen schon in einer Canja, die von einem sehnigen jungen Burschen namens Hasan über den Fluss gesteuert wurde. Ihre Grabungswerkzeuge hatten sie jedoch im Hotel zurückgelassen. Bei helllichtem Tag in den Ruinen zu buddeln, verbot sich von selbst.
Heißer Wüstenwind füllte das trapezförmige Segel, das zum Bug hin so spitz zulief, dass man es fast für dreieckig halten konnte. Auf dem Westufer an der Anlegestelle, die auf einer Höhe mit der südli chen Inselspitze von Elphantine lag, warteten schon Eseltreiber mit ihren Tieren darauf, Touristen zum alten koptischen Kloster zu brin gen. Der Weg führte in nordwestlicher Richtung durch einen langen, schluchtartigen Einschnitt im Steilufer.
»Dass die heiligen Männer von ihrem Wüstenkamm auf Jebu hinab schauen konnten, stimmt ja wohl nicht«, sagte Alistair, der wie seine Freunde vergeblich nach den Ruinen des Klosters Ausschau hielt.
»Wen kümmert’s, Alistair?«, meinte Horatio, der auf dem Rücken des Esels wie ein locker auf dem Sattel sitzender Sack hin und her schwankte. »Hauptsache, wir finden dieses Kloster St. Simeon.«
Kurz vor dem Ende der Schlucht führte der Eseltreiber seine kleine Kolonne über einen ausgetretenen, felsigen Pfad zu einer Anhöhe hinauf, die in eine weite Einöde aus Sand und felsigen Hügeln über ging. Und sofort tauchten vor ihnen die Ruinen des Klosters auf.
»Heiliger Simeon!«, entfuhr es Horatio überrascht, als sein Blick die gewaltigen Ausmaße der Anlage erfasste. »Das Kloster ist ja riesig! Das muss früher eine richtige Wüstenfestung gewesen sein!«
Auch Byron, Alistair und Harriet waren nicht darauf vorbereitet ge wesen, an diesem Ort einen so gewaltigen Komplex vorzufinden, dessen Ruinen noch immer Zeugnis von dem Festungscharakter des uralten koptischen Klosters abgaben.
Gut dreißig Fuß hohe Mauern, teils aus Granitgestein, teils aus Nilschlammziegeln, umschlossen St. Simeon. Die längste der vier Um fassungsmauern mochte eine Länge von hundertfünfzig Ellen haben. In einer Ecke der Anlage ragten drei hohe und breite Festungstürme auf, deren Mauern zum Innern der Anlage ineinander übergingen und eine gezackte Linie bildeten, die wie ein doppeltes Z aussah. Ein vierter Turm erhob sich außerhalb der Umschließung an einer Mauerecke. Während die kantigen, festungsartigen Türme mit ihren wenigen winzigen Fensteröffnungen bis auf den oberen Teil noch gut erhalten waren, standen von der Kirche und den anderen Gebäuden nur noch skelettartige Ruinenreste.
Als sie durch das Tor in der Ostmauer traten, sahen sie, dass sich die weitläufige Anlage über zwei unterschiedlich hohe Ebenen er streckte. Der nach Osten weisende Teil mit der Kirchenruine bildete die untere Ebene, der größere Westteil die obere. Außer ihnen selbst hielten sich dort noch zehn, zwölf weitere Touristen auf, die St. Simeon besichtigten, die Frauen im Schutz von bunten, fransen gesäumten Sonnenschirmen und die Männer überwiegend mit Tro penhelmen auf dem Kopf. Eine Gruppe bewunderte in der Kirchen ruine die alten Malereien, die sich dort noch in einem Rest der Deckenwölbung fanden. Die anderen wanderten durch die spärli chen Ruinen, wo sich laut Reiseführer einst die Zellen der Mönche und das Refektorium befunden hatten.
»Kann mir mal jemand verraten, wo wir hier mit der Suche begin nen sollen?«, fragte Alistair, entmutigt von der Größe der Anlage. »Da können wir ja Jahre verbringen!«
»Damit könntest du recht haben«, sagte Harriet bedrückt. Auch sie hatte sich die Suche nach dem Versteck einfacher vorgestellt.
Horatio nickte mit bedenklicher Miene. »Durch einen glücklichen Zufall auf die Stelle zu stoßen, wo Mortimer die Papyri versteckt hat, das können wir wohl gleich vergessen. Ohne genauere Angaben ha ben wir keine Chance, auf das Judas-Evangelium zu stoßen.«
Byron gab einen schweren Seufzer von sich. »Was bedeutet, dass wir unbedingt die Zeichnung
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